Freitag, 30. September 2011

Dumm-Wörter und die Folgen

Es ist erstaunlich, wie viele Leser eine Erwähnung im "BildBlog" zu generieren im Stande ist:

 
(Screenshot vom 29.09.11, 22 Uhr)

Noch schmeichelhafter als der Besucherstrom ist die Tatsache, dass sich ein anderes Blog, Belles Lettres, die Zeit genommen hat, auf meinen Beitrag zu antworten. Nun stehe ich natürlich wieder in der Antwortpflicht. (Achtung: Jetzt wird's langweilig!) (Zitate aus "Belles Lettres" kursiv.)
Komposita im Deutschen danach zu beurteilen, ob es in uralten Grammatiken des Indischen einen Begriff dafür gibt, ist … sagen wir: befremdlich.
Tja, was soll ich dazu sagen? Ich interessiere mich für Befremdliches. Deswegen habe ich den Text auch nicht einer Fachzeitschrift angeboten, sondern in meinem Privatblog veröffentlicht.
Das ist durchaus ein jahrtausendealtes Wortbildungsmuster [...], aber es geht doch nicht darum, ob man es machen kann, sondern ob man es machen soll.
Man merkt, dass "Belles Lettres" ein eher präskriptiv ausgerichtetes Journal ist. Ich verstehe mich als Beobachter, als Analytiker, und dass ich die von Bild immer mehr bevorzugte Wortbildungsart beschrieben habe, ohne auf die Frage des Darf-man-das? einzugehen, ist doch legitim. Wie bereits angedeutet, halte auch ich diese Wörter nicht für stilistisch wertvoll. In dem sie umgebenden Biotop des Boulevardjournalismus ist ihre Existenz aber zumindest nachvollziehbar (Motiv der Bild-Redakteure einerseits, Erwartungshaltung der Leser andererseits etc.).
Alle Wortbildungen führen zu festen Begriffen, an denen nichts mehr zu ändern ist. Sieht man von dichterischen Spontanbildungen ab, werden Begriffe nur dann gebildet, wenn sie vielfach anzuwenden sind.
Das habe ich nie bestritten; ich habe geschrieben, dass die genannten Komposita "als Ad-hoc-Bildungen geringe Chancen haben, irgendwann im Duden zu landen."
Das gilt im Deutschen wie im Altindischen. [...] Den Maharaja gibt es als Wortbildung nur, weil das Großkönigtum eine Instanz ist.
Natürlich nehmen Komposita oft Spezialbedeutungen an, die über die Summe der Bedeutung ihrer Glieder hinausgehen. Der nīlopala beispielsweise ist nicht nur ein "blauer Stein", sondern eben eine spezielle Art Edelstein, ein Saphir (Monier-Williams, Sanskrit-English Dictionary, S. 567). Das ist aber nicht allgemeingültig. Es gibt etwa den priyasakha, den "lieben Freund", der keine Spontanbildung ist, sondern mehrfach belegt ist, ohne eine "Instanz" geworden zu sein (Monier-Williams, S. 710); man denke auch an die vielen zusammengesetzten Substantive mit dem Adjektiv su- "gut". Insofern kann niemand davon abgehalten werden, einen "Schwerkoffer" - um das Beispiel aus "Belles Lettres" aufzugreifen - zu bilden. Ob sich daraus eine Begrifflichkeit und schließlich ein Einzug in den Wortschatz ergibt, liegt in der Hand der Sprecher (die, so ist es nun mal, von den Medien in nicht geringem Maße beeinflusst werden).
Dieses Schema ist überdies lexikalisch und morphologisch falsch: Ein Vermieter bleibt ein Vermieter, ganz gleich wie sein Herz beschaffen ist. Ist er herzlos, ist er ein herzloser Vermieter, aber kein Herzlos--Vermieter. Diese Bildung würde voraussetzen, daß sich Vermieter und Herzlos--Vermieter in ihrem Wesen als Vermieter unterscheiden. Genau das tun sie aber nicht: Beide vermieten.
Das ist nun wirklich Unfug. Selbstverständlich begreift jeder den gemeinten Unterschied zwischen einem Vermieter und einem "Herzlos-Vermieter". Mit derselben Logik könnte man über "Schwermetall" sagen: "Diese Bildung würde voraussetzen, dass sich Metall und Schwer-Metall in ihrem Wesen als Metall unterscheiden. Genau das tun sie aber nicht: Beide stehen im PSE links." (Das Beispiel ist bewusst gewählt, weil es keine "eindeutig[e] wissenschaftlich akzeptiert[e] Definition des Begriffes 'Schwermetall' gibt" [Wikipedia]. Schwermetalle, oder halt Schwer-Metalle, sind willkürlich so genannte schwere Metalle.)
Es soll so aussehen, aber tatsächlich liegt eine billige Zusammenrückung wie Muttergottes oder Bildzeitung vor.
Nix gegen Zusammenrückungen!
PS: Die Übersetzung ›Karma tragend‹ für Karmadhāraya ist ein false friend. Wer des Altindischen mächtig ist, übersetzt formal ›ein Amt tragend‹, aber das Wort ist außerhalb der Panini--Grammatik unerhört, deswegen übersetzt man es nur widerwillig und nie ohne Fußnote.
Verstehe ich nicht. Sicher, Manfred Mayrhofer schreibt, "eine gesicherte Übersetzung des ai. Fachausdruckes ist nicht gefunden" (Sanskrit-Grammatik, S. 102), aber man erlaube mir bitte, es wenigstens zu versuchen, um das Thema anschaulicher darzustellen. Außerdem ist -dhāraya als Ableitung von dhṛ- "halten" bekannt und geläufig (Whitney, Roots, S. 85).
PS: Im Impressum von "Belles Lettres" findet sich das schöne Wort (um nicht zu sagen: Schönwort) "Schönliteratur".

Mittwoch, 28. September 2011

Kommen jetzt die Dumm-Wörter?

Folgende Wörter waren in den vergangenen Monaten in der BILD-Zeitung bzw. auf bild.de zu finden:

  • Herzlos-Vermieter
  • Billig-Mini
  • Gemein-Wurf
  • Nackt-Ukrainerinnen
  • Brutal-Attacke
  • Peinlich-Auftritt
  • Schrill-Outfit

Ihnen gemein ist eine besondere Bildungsweise, die im Deutschen so gut wie nicht vorkommt. All diese Komposita (= zusammengesetzte Wörter) bestehen aus einem Adjektiv und einem Substantiv, wobei ersteres das zweitere näher bestimmt: Ein "Herzlos-Vermieter" ist ein herzloser Vermieter, ein "Peinlich-Auftritt" ist ein peinlicher Auftritt.

Ich habe geschrieben, dass diese Wortbildungsart so gut wie nicht vorkommt - einige Ausnahmen gibt es natürlich. Der "Freistaat" etwa ist ein freier Staat, ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert; ein "Schnellschuss" ist ein schneller Schuss, wird aber heute meist als Metapher ohne direkten Bezug auf das Schießen von Bällen oder Projektilen verwendet ("Nowotny gegen Schnellschuss bei Euro-Bonds"; derStandard.at, 18.08.2011). Man denke auch an "Starkbier", "Schnellzug", "Engpass", "Kurzgeschichte" oder "Heimlich-Manöver" (kleiner Scherz). Eine etwas größere Gruppe dieser Komposita kommt aus dem Tier- und Pflanzenreich, wobei oft ein Farbadjektiv das Erstglied ist: Braunbär, Blaualge, Gelbkiefer, Faultier, Kleinpferd.

Hiervon abzutrennen sind Wortbildungsprodukte nach dem Muster "Langohr", "Dummkopf", "Rotkäppchen" oder "Plattnase". Im Gegensatz zu den oben genannten Wörtern ist hier nämlich nicht das Zweitglied das Bezeichnete, sondern ein "außenstehendes" Subjekt, für welches das, was durch das Kompositum ausgedrückt wird, charakteristisch ist. "Langohr" bedeutet eben nicht "langes Ohr", sondern "Träger von langen Ohren", nämlich eine Fledermausart. "Rotkäppchen" heißt nicht der Kopfschmuck, sondern das Mädchen mit dem roten Käppchen. Solche exozentrischen Zusammensetzungen heißen Possessivkomposita oder auch, bevorzugt in der Vergleichenden Sprachwissenschaft, Bahuvrīhi (von altindisch "Vielreis" --> "jmd., der viel Reis hat").

Nun stellt sich die Frage, wie man Wörter à la "Nackt-Cowboy" (bild.de, 27.09.11) in der Sprachwissenschaft nennt. Wieder einmal helfen uns hier die alten Inder weiter. Die hatten für solche Komposita nämlich einen grammatikalischen Fachausdruck: Karmadhāraya ("Werk/Karma tragend"). Das wohl bekannteste Beispiel für ein Karmadhāraya ist mahārāja - "Großkönig"/"großer König". Weitere Vertreter: suputra "guter Sohn", nīlotpala "blauer Lotus", kṛṣṇaśakuni "schwarzer Vogel". In den gängigen Sanskrit-Lehrbüchern werden Karmadhārayas oft "appositionellbestimmte Komposita" genannt. Es ist ein einleuchtendes Verfahren der Wortschatzerweiterung. Und auch wenn die Beispiele aus der BILD nicht unbedingt die Krönung sprachlicher Ästhetik sind und als Ad-hoc-Bildungen geringe Chancen haben, irgendwann im Duden zu landen, kann man ihren Erfindern nicht den Vorwurf der "Sprachpanscherei" machen, allenfalls den, auf jahrtausendealte Wortbildungsmuster zurückgegriffen zu haben.

PS: Ganz verrückt wird es bei "Nackt-Beichte" (BILD) und "Schwanger-Glück" (Bunte): Es ist nämlich nicht eine nackte Beichte gemeint, sondern eine Beichte über ein vorangegangenes Nackigsein, und auch kein "schwangeres Glück", sondern das Glück über eine Schwangerschaft.

PPS: Vor ein paar Tagen erschien mir das Wort karmadhāraya tatsächlich als Captcha auf einer Filehoster-Seite. Unheimlich?

Dienstag, 27. September 2011

Gerade herausgefunden

Man halte sich fest! Die Titelmusik der 90er-Jahre-Zeichentrickserie Wo steckt Carmen Sandiego? (OT: Where on Earth Is Carmen Sandiego?) ist identisch mit Mozarts "Singt dem großen Bassa Lieder" aus der "Entführung aus dem Serail"!

Mittwoch, 14. September 2011

Linktipp: Torsten Dewi interviewt Joachim Körber

Blogger Torsten Dewi (wortvogel.de) hat ein sehr lesenswertes Interview mit Joachim Körber geführt. Körber, selbst Schriftsteller, ist einer der profiliertesten deutschsprachigen Übersetzer von SciFi-/Fantasy-/Horrorliteratur.

Teil 1
Teil 2

Ja, das waren die guten alten Zeiten, als Übersetzen noch richtig Handarbeit war. Ich kenne Kollegen, die haben alles Mögliche gehortet, amerikanische Kataloge mit Anglerbedarf, Schusswaffen, Kleidung, Lebensmitteln, damit sie zu den Begriffen Bilder hatten und dann über die entsprechenden Bilder in deutschen Katalogen suchen konnten. Oder man ist eben in die Bibliothek gewandert, in meinem Fall die Badische Landesbibliothek in Karlsruhe, und hat Begriffe gesucht. Ich hatte das Glück, dass zwischen Linkenheim, meinem damaligen Wohnort, und Karlsruhe eine Kaserne der Amerikaner lag. [...] Als Jugendlicher hatte ich einen amerikanischen Freund, der uns immer in die an sich Amerikanern vorbehaltenen Geschäfte und Clubs rund um die Kasernen herum reingeschleust hat, und da habe ich schon viel von den umgangssprachlichen Ausdrücken und der amerikanischen Lebensart aufgeschnappt, die mir dann später beim Übersetzen von Stephen King so nützlich waren.