An einem wunderschönen, sonnigen Montagmittag beschloss ich, ein Kapitel meines Lebens, das da hieß "4.) Studentenzeit", abzuschließen. Ich hatte auf einer der zahlreichen Campuswiesen gelegen und die Umgebungsgeräusche auf mich einwirken lassen, wodurch sich eine Atmosphäre wie an einem gut besuchten Badestrand eingestellt hatte. Diese Atmosphäre weckte in mir eine bis dahin nicht gekannte Sehnsucht: die Sehnsucht nach Freiheit.
Statt also in die anstehende Vorlesung zum Thema "Sichtschutzelemente aus Molybdän" zu gehen, ging ich nicht dahin. Ich wäre ohnehin zu spät gekommen, was zur Folge gehabt hätte, dass ich der Lehrveranstaltung zur Strafe nur mit Unterwäsche bekleidet hätte beiwohnen müssen. Unser Werkstoffwissenschafts-Professor war nämlich verrückt. Das äußerte sich aber nicht nur in seiner Liebe für das Verhängen drakonischer Strafen, sondern auch in seiner Lehre selbst. Er vertrat beispielsweise noch immer die These vom Äther oder dem sogenannten Phlogiston. Auch nannte er den Erdkern noch "Nife", besteht jener doch aus einer Nickel-Ferrum-Legierung. Überhaupt hatte Prof. Aschenknecht (so hieß der Hochschullehrer) ein Faible für alte, ja antiquierte Sachen, die heute kaum noch jemand kennt. In seinem Büro befanden sich u.a. ein Stapel Blaupapier, eine Lupe, mehrere Bartbinden, Schlafmützen, Brummkreisel, Spazierstöcke, Leiterwagen, eine Fußbank und ein Fidibus.
In der Vergangenheit hatte es mehrfach Beschwerden und sogar Amtsenthebungsverfahren gegen Aschenknecht gegeben, allein es hatte nichts genutzt. Ihm oblag dummerweise die Schirmherrschaft über den Botanischen Garten, d.h. nur dank seiner großzügigen finanziellen Aufwendungen konnte jener instandgehalten werden. "Nehmt mir den Lehrstuhl, und ich streue Glaubersalz auf die Orchideenbeete!", hatte Aschenknecht mehr als einmal gedroht, als erzürnte Bürgerinitiativen ihm an den Karren fahren wollten. Ob Glaubersalz wirklich Blumen zu zerstören vermochte, hatte niemand nachgeprüft, es ging ja ums Prinzip! Überflüssig zu erwähnen, dass an meiner Alma Mater alle Studiengänge, die mindestens eine Pflichtveranstaltung bei Prof. Aschenknecht vorsahen, notorisch unterbesetzt waren. Am Anfang meines ersten Semesters saßen immerhin 30 Studenten, streng nach Geschlecht getrennt, im Einführungskurs. Nach drei Wochen waren es nur noch zwölf. Einen rheinischen Burschen, der es einmal gewagt hatte, nach einer allzu dreisten Behauptung Aschenknechts aufzubegehren, verprügelte dieser mit seinem Zeigestock. Und zwo Mädels, die nach dem – von Aschenknecht mit dem Mund imitierten – Stundenklingeln noch mit ihren Tamagotchis gespielt hatten, wurden gezwungen, eine Terrine Knallerbsen zu essen.
Es wunderte mich, dass ich so intensiv an meinen schrulligen Lehrer denken musste, der mich unentwegt mit Beleidigungen wie "Sohn einer räudigen Eselin" und Flüchen wie "Möge dich Yog-Sothoth fressen!" bedacht hatte. Ich versuchte mir angenehmere Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Wie war das noch mit diesem Mädchen, in das ich einst verliebt war? Ich saß – ich nehme jetzt einfach mal Präteritum statt Plusquamperfekt – in der Universitätsbibliothek und las einen Fachaufsatz über Mehl, als ich neben mir die berüchtigte Windows©-Hochfahr-Melodie ertönen hörte. Ich drehte mich zur Seite und wollte dem Laptop-Besitzer gerade ein "Welcher Vollpfosten lässt eigentlich seine Systemsounds an, wenn er an einem öffentlichen Ort arbeitet?!" entgegen schleudern, als ich erkannte, dass es sich um eine reizende junge Frau handelte. Mit offenem Maul starrte ich die Schöne an, welche nur rief: "Was glotzt'n so, Spast?" – "Wie heißt du?", wollte ich wissen. – "Deirdre, aber du kannst mich auch Erdmuthe nennen, is' mir scheißegal!", spie sie. Ihr unsympathischer Charakter stieß mich nicht ab, ihr Aussehen hatte mich gänzlich eingenommen. So sind wir Kerle nun mal. "Deirdre? Ist das irisch?", frug ich noch. Sie klappte ihr Notebook zu und floh den Büchertempel. Danach sah ich sie nie wieder, doch sie hatte mein Herz erobert.
Ich wollte irgendwie einen Schlussstrich unter diese Ära ziehen, symbolisch. Betrinken und feiern waren zwei Optionen. In einem Studentenclub namens "Chomsky Beats" gab es eine Nachmittagsdisco. Da wollte ich rein. Kurz bevor ich die Tür des Etablissements öffnen konnte, packte mich jemand am Unterarm. Ich quiekte. Es war Professor Aschenknecht. "Halt, du! Warte einen Augenblick, bitte", sagte er. Das war das erste Mal, dass ich ihn das Wort bitte benutzen hörte. Ich antwortete: "Nee, von Ihnen muss ich mir gar nix mehr anhören – ich bin kein Student mehr!" – "Ich weiß, ich weiß", entsetzte er. "Es dauert nur eine Stunde. Es ist wichtig. Bitte." Das war das zweite Mal, dass ich ihn das Wort bitte benutzen hörte. "Auf keinen Fall!", rief ich. "Warum sollte ich mich mit Ihnen unterhalten? Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht!" – "Aber ich brauche dich! Der Kasus ist von höchster Wichtigkeit." Aschenknecht winselte jetzt förmlich. "Es soll sich auch für dich lohnen." Damit hatte er meine Aufmerksamkeit erlangt. "Na schön", seufzte ich. "Ich gebe Ihnen 15 Minuten." Wir setzten uns auf eine Bank. Auf dem Rasen hinter uns spielten ein paar ironische Stoner mit Hackysacks.
"Ehe ich selbst rede, sieh dir diesen Film an!", befahl der Professor und reichte mir ein portables Videoabspielgerät. Ich drückte auf die Play-Taste und schaute auf das Display. Zu sehen war eine etwa 30jährige Frau in einer olivgrünen Allzweckjacke. Sie (also die Frau, nicht die Jacke) winkte in die Kamera, die offenbar von ihrem Reisepartner gehalten wurde. Denn dass die beiden auf Reisen waren, erkannte man nicht nur an dem Lonely Planet, der in einer der Taschen der Jacke der Frau steckte (dreifacher Genitiv, geil!), sondern auch an der ganz und gar nicht mitteleuropäischen Landschaft, die sich im Bildhintergrund erstreckte. Nun erklang eine raue Männerstimme: "Huhu, wir sind hier in einem kleinen Dorf; ich weiß nicht, wie das heißt, aber es ist supersüß. Ich schwenke mal rum." Der Typ nahm eine winzige Ansiedlung von Zelten auf, zwischen denen Pferde grasten. Plötzlich ertönte ein schriller Schrei. "Wow, was ist da denn los?", wunderte sich der Filmer und rannte in die Richtung, aus der er den Ruf vernommen hatte, wodurch das Bild ruckelte. Mit einem Mal wurden Menschen sichtbar. Auch sie ließen keineswegs auf europäische Provenienz schließen. Ein Kind deutete auf den Erdboden und weinte. Die Leute plärrten wild durcheinander. "Oh mein Gott!", brüllte nun die Touristin. Ihr Gefährte zoomte auf die Stelle am Boden und erfasste eine seltsame Kreatur. Es schien eine Art Schlange zu sein, allerdings ohne erkennbaren Kopf und in knallroter Farbe. Dann brach das Video ab.
"Was du hier siehst", sprach Aschenknecht nach einer bedeutungsschweren Pause, "ist der erste Beweis für die Existenz des Mongolischen Todeswurms." – "Bitte was?", entfuhr es mir. Aschenknecht hob die Hand. "Lass mich ausreden", gebot er. "Das Video wurde vor ca. einer Woche in einem namenlosen Dorf in der Nähe von Baruun-Urt aufgenommen. Der Kameramann ist tot." Ich schluckte und erwiderte: "Das ist ja interessant, aber was habe ich damit zu tun?" – "Du wirst dieses Dorf suchen und den Mongolischen Todeswurm fangen. Denn nichts anderes war es, was wir in dem Film sahen und was den jungen Mann mit Gift bespuckt hat. Du musst wissen: Alles, was dieser Wurm anspeit, stirbt augenblicklich!" Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Schließlich sagte ich: "Also prinzipiell habe ich schon Zeit und Lust, aber ich fahre nicht einfach so in die Mongolei und riskiere mein Leben, damit Sie berühmt werden. Ich verlange etwas dafür. 10.000 Euro!" Der Gelehrte grinste mich breit an. "Ich gebe dir etwas, das mehr wert ist als 10.000 Euro", raunte er, "... 12.000 Euro! Außerdem wirst du nicht dahin fahren, sondern fliegen. Schon morgen kann's losgehen." Nach kurzer Bedenkzeit sprang ich auf und jauchzte: "Okay, ich mach's!"
Am Tag darauf standen wir vor dem Flughafen, von dem aus es nach Ulaanbaatar gehen sollte. Aschenknecht überreichte mir ein Säcklein und erklärte: "Darin ist alles, was du brauchst: ein GPS-Gerät, Impfzeug, Schmelzkäseecken, eine kurze (von mir geschriebene) Monographie über Eigenurintherapie und ein Tetrapak Kaba, der Plantagentrunk. Das wichtigste Utensil, um den Allghoi Khorkhoi – so lautet die einheimische Bezeichnung des Todeswurms – zu schnappen, ist ein Netz. Nimm außerdem diesen Betäubungspfeil. Schmuggle ihn irgendwie ins Flugzeug." Ich bedankte mich und ging los. Kurz fragte ich mich, ob das alles nur ein Traum war. Gestern noch lag ich auf der Wiese, und heute flog ich im Auftrag meines Nemesis – einer der Gründe, warum ich überhaupt mein Studium beendet hatte – in ein Land mit einer Bevölkerungsdichte von zwei, um ein mythologisches Wesen aufzuspüren. Ich drehte mich noch einmal um, weil mir der Hobby-Kryptozoologe etwas zurief: "Die Einwohner reden nicht gerne über den Wurm. Du wirst auf viele taube Ohren stoßen. Aber lass dich nicht unterkriegen!"
Im Flieger las ich, dass der Allghoi Khorkhoi bis zu 120 cm lang werden konnte. Ich ekelte mich schon jetzt. Wäre ich nur zur Nachmittagsdisco gegangen! Nach zehn Stunden landeten wir in der mongolischen Hauptstadt. Mir wurde schlagartig klar, dass ich nicht einmal die Landessprache beherrschte. Wie es mir dennoch gelang, mich bis zu dem ominösen Dorf durchzuschlagen, soll ein andermal erzählt werden. Die Geschichte endete jedenfalls damit, dass ich mich den hiesigen Halbnomaden, die ein Drittel ihres Lebens auf dem Rücken ihrer Reittiere verbringen, anschloss und fortan in einer bescheidenen Jurte lebte, bis ich den legendären Todeswurm eines Tages – mehr oder weniger zufällig und mit Hilfe einer Schneiderahle, einer Zwiebel und eines Gürtels – fing. Nach dieser Heldentat meldete sich sogar Deirdre bei mir und wollte mich heiraten. Doch ich lehnte ab.
Weiterführende Lektüre:
http://de.wikipedia.org/wiki/Phlogiston
http://de.wikipedia.org/wiki/Mongolischer_Todeswurm
http://en.wikipedia.org/wiki/NiFe
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