"Wenn ein Mensch vor einem Spiegel steht und in diesem seine Reflexion betrachtet, dann sieht er nicht sein wahres Abbild, sondern er sieht ein Bild, das ihn als jüngeren Menschen darstellt. Die Erklärung, die de Selby für dieses Phänomen liefert, ist denkbar einfach. Es gibt eine nachgewiesene und definierte Zeit, die das Licht braucht, um einen Weg zurückzulegen, die Lichtgeschwindigkeit. Daher ist es nötig, dass, bevor man von einem Objekt sagen kann, dass seine Reflexion in einem Spiegel stattgefunden hat, die Lichtstrahlen zuerst das Objekt treffen und erst dann auf das Glas des Spiegels stoßen, um auf das Objekt zurückgeworfen zu werden – die Augen eines Menschen zum Beispiel. Daraus folgt die Existenz eines abschätz- und messbaren Zeitintervalls zwischen dem Blick, den ein Mensch auf sein Gesicht in einem Spiegel wirft, und der Registrierung des reflektierten Bildes in seinem Auge.
[...]
Mag diese Idee nun stimmig sein oder nicht, so ist doch die damit verbundene Zeitspanne so unbedeutend, dass sich nur wenige Menschen von Verstand ernsthaft mit diesem Punkt auseinandersetzen werden. De Selby jedoch, nie ein Freund von Halbheiten, besteht darauf, die erste Reflexion in einem weiteren Spiegel zu reflektieren und die winzigen Unterschiede in diesem zweiten Abbild ausfindig zu machen. Schließlich konstruierte er die bekannte Versuchsanordnung paralleler Spiegel, deren jeder die schwächer werdenden Abbilder eines zwischengeschalteten Objekts unendlich reflektiert. Bei dem zwischengeschalteten Objekt handelte es sich in diesem Fall um de Selbys eigenes Gesicht, und dieses habe er, gibt er an, durch eine Unendlichkeit von Reflexionen 'mit Hilfe eines starken Glases' rückwärts studiert. Was er durch dieses Glas gesehen zu haben behauptet, ist erstaunlich. Er berichtet, er habe in den Reflexionen seines Gesichts eine zunehmende Jugendlichkeit bemerkt, und zwar der zunehmenden Entfernung der Spiegel entsprechend, wobei die entfernteste – zu winzig, um unbewaffneten Auges wahrgenommen zu werden – das Gesicht eines bartlosen Knaben von zwölf Jahren war [...]. Es gelang ihm allerdings nicht, den Gegenstand bis zur Wiege zurückzuverfolgen, wofür er 'die Erdkrümmung und die Grenzen des Teleskops' verantwortlich machte."
--- Flann O'Brien: Der dritte Polizist (dt. v. Harry Rowohlt). Frankfurt a.M. 1975: Suhrkamp. S. 84f.
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