(Geschrieben im April 2005. Behutsam überarbeitet im Juli 2014.)
Es war einmal ein bärbeißiger, starker Menschenmann. Er hieß Ansgar Gerđurson und stammte aus Island, einer mirakulösen Insel im ewigen Eismeer. Beruflich verschlug es ihn jedoch nach Norwegen, denn er war Brummifahrer. Ansgar trug – wie seine Vorfahren, die Wikinger – einen majestätischen Bart, einen Prunkharnisch aus Elchleder und einen Helm mit zwei Hörnern dran. Sein Wagen war ein selbstgebautes Eichenholzmodell. Stolz steuerte er es durch die nordischen Landstriche.
Im Mittelpunkte zweier größerer Ortschaften hält Ansgar am Straßenrand an und legt ein Päuschen ein (Erzählpräsens!). Er fällt ein paar Bäume, trinkt Schwarzbier aus einem Bocksbeutel und brüllt dazu germanische Volkslieder. Ein kurzes Gebet an Odin, dann kann die Fahrt weitergehen. Die Lufttemperatur beträgt -10°C, weswegen sich Ansgar nach ein paar Minuten die Rüstung herunterreißt, um fortan mit freiem Oberleib weiterzufahren. Dieser kurze Augenblick der Unachtsamkeit reicht aus, dass sich ein Unfall ereignet; zumindest gibt es einen dumpfen Knall. Ansgar bremst und steigt aus dem Wagen. Jetzt ist es doch wieder zu kalt, also zieht sich Ansgar ein Hemd über. Dann besieht er sich die Stelle, an der er einen Überfahrenen wähnt. Da liegt aber keine Person, sondern ein toter Schneemann. Nur noch Schneefetzen liegen verstreut auf der Schnellstraße. Auch an der Stoßstange klebt Schnee. Ansgar findet noch zwei Kohlenstückchen – es müssen die Augen gewesen sein – und eine Karottennase, die er aufisst. Panisch verlässt Ansgar den Unfallort. Doch er soll nicht weit kommen ...
Zur selben Zeit an einem anderen Ort, nur etwas später. Genauer: 12 Uhr 31 in Toronto. Timo Sealschmatz sitzt auf dem Wasserbett in seiner Junggesellen-Mansarde und verzehrt Eiskrem mit heißen Wacholderbeeren und gezuckerter Kondensmilch. Als die Telefonklingel losgeht, stellt Timo den Eisbecher auf ein Beistelltischchen und meldet sich. "Hallo?", spricht er in den Hörer. Eine geheimnisvolle Stimme sagt: "Schalten Sie sofort Kanal 5 ein!" Timo stellt sein TV-Gerät an und sagt kurz darauf: "Auf Kanal 5 kommt eine Reportage über Erdmännchen. Was soll ich damit anfangen?" Die Stimme am anderen Ende der Leitung flüstert: "Ach so ... dann eben Kanal 6." "Kanal 6 ist nicht belegt – soll ich vielleicht mal die 7 einschalten?", fragt Timo. "Nein, probieren Sie mal die 9", weist die Stimme an. Dann verstummt sie. Aufgelegt. Timo drückt die 9 und starrt auf den Bildschirm. Die Nachrichten laufen. Aus dem Off fasst ein Sprecher das im gezeigten Beitrag Geschilderte zusammen: "Hallo, Leute! In der Nähe von Eldrehaug in Norwegen kam es vor wenigen Stunden zu einem rätselhaften Verkehrsunfall. Ein 35jähriger Fernfahrer aus Island wurde tot in seinem Lkw aufgefunden. Der Lastwagen selbst befindet sich auf dem Dach in einem Straßengraben liegend und in einem irreparablen Zustand. Man geht davon aus, dass der Fahrer in einer Kurve die Kontrolle über seinen Fünfzehntonner verlor, welcher dann von der Fahrbahn geriet und sich in der herrlichen Fjordlandschaft mehrmals überschlug. Der Mann erlag darauf seinen schweren Quetschungen. Über den Grund des Abdriftens kann nur gemutmaßt werden. Ein von einem pilzesuchenden Rentnerpärchen herbeigerufener Notarzt bestätigte, dass der LKW-Fahrer kurz zuvor eine bislang unbestimmte Menge Starkbier zu sich genommen hatte. Ferner fand man Schneespuren am Wagen."
Timo macht den Fernseher aus und grübelt. Dann fasst er einen Entschluss: "Ich werde nach Norwegen reisen und die wahren Tatumstände herausfinden. Den Eisbecher werde ich inzwischen einfrosten."
(Fortsetzung folgt)
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