(Teil 1)
Im Flugzeug las Timo Sealschmatz in dem Buch "Kriminalistisches Grundwissen für Hobby-Detektive" von Ulf Moldenhauer. Das Handbuch stand im Ruf, unterschwellige Kommunismus-Verherrlichung zu enthalten, weswegen es nicht mehr im freien Handel zu bekommen war, aber Timo hatte vor etlichen Monaten ein Restexemplar auf dem Flohmarkt auftreiben können.
Kapitel VI
Grob lassen sich Verbrecher in zwei Gruppen gliedern. Da gibt es auf der einen Seite die tumben Prügelknaben, die gedungenen Schläger, Tagediebe, Gelegenheitsmeuchler, kurzum: jene, die zur Planung und Ausübung eines perfekten Planes nicht fähig sind, weil ihnen die Anlagen dazu fehlen. {Zerschlagt die Bourgeoisie!} Sie werden beizeiten im Zuchthaus sitzen und auf lange Sicht keine erste Geige in der Unterwelt spielen. Vor der zweiten Gruppe aber muss man sich hüten. Es sind dies Schurken von nicht nur übler krimineller Natur, sondern auch solche mit einem beachtlichen Maß an Geist und Witz. Haben sie sich einmal der Perfidie verschrieben, werden sie in Kürze ein Intrigennetz von kalkulierter Dichte weben, welches zu zerreißen nur dem gewieftesten Kommissar gelingen wird. Denn diese Köpfe lassen die Drecksarbeit von anderen Gaunern erledigen, den oben genannten Schmalspurganoven der ersten Kategorie. {Besitz ist Diebstahl!!!} Es ist schwer, solchen Gangsterbossen ein Delikt nachzuweisen, und oft sind die Bestechungsversuche gar zu verführerisch.
Timo dachte intensiv nach. Sollte er sich einen Cappuccino bestellen oder doch lieber einen Milchkaffee? Und wenn er den Milchkaffee erköre, welches Topping würde er dann wählen? Sollte er einen Kakao trinken? Oder Saft? Bier? Wein? Champagner? Tee? Milch? Tafelwasser? Der neueste Schrei war Mineralwasser mit kleinen Mineralstückchen drin. Ehe die Entscheidungsfindung abgeschlossen war, hatte der Flugzeugkapitän die Landung eingeleitet. Aber Timo dürstete nach wie vor. Er entstieg dem Flugzeug und orderte in einem Flughafenimbiss eine Diätcola für umgerechnet 14,50 €. Damit waren seine pekuniären Ressourcen nahezu erschöpft.
Zum Ort des Geschehens musste er trampen. "Trampen. Wie ging das noch mal?", fragte sich Timo. Er zog sein schlaues Survival-Taschenbuch hervor und erfuhr, dass man sich an den Straßenrand stellen und den ausgestreckten Daumen in die Luft halten solle. Die Taktik war fruchtbar. Das erste vorbeifahrende Auto hielt an. Der Autofahrer kurbelte die Fensterscheibe runter und fragte: "You want a ride?" Timo stutzte, hatte er doch nicht erwartet, englische Zunge zu hören. "Come on in", sagte der Mann. "Where you going?" Timo stammelte: "I think I know you. Are you famous?" "Just hop on, will ya?", rief der Fahrer aus. Timo stieg ein und sagte, dass er nach Eldrehaug müsse. Nach einer Weile dämmerte es ihm: Sein gefälliger Mitnehmer war kein geringerer als der amerikanische Schauspieler Skeet Ulrich! Das gefiel ihm. "Oh my gosh! You are Skeet Ulrich!", schrie er. "I'm your biggest fan!" Skeet verdrehte die Augen. Berühmte Schauspieler hassen aufdringliche Nervensägen, die sich als anbiedernde Fans aufspielen, um später vor ihren Durchschnittsmitmenschen den Eindruck zu erwecken, sie seien mit Stars befreundet. Er rang sich ein "Nice to meet you" ab, bevor er das Radio einschaltete. Dummerweise fand sich kein gescheiter Kanal. Die einzigen hier empfangbaren Stationen waren Belgisch-Kongo-Folk-Rock-Radio, Ex-Fußballspieler-Frauen-Diskussions-Radio, Geräusche-von-ausgeleierten-Türklinken-Radio und der Wertpapiermarkt-50-Jahres-Rückschau-Sender (in RTTY). Ein Plausch war unumgänglich. So unterhielten sich die zwei Herren über Hollywood. "Wussten Sie, dass Hollywood für seine Datteln berühmt war, bevor es zum Filmmekka reifte?", fragte der eine. "Nein, aber stimmt es, dass manche Schauspielerinnen nicht altern, weil sie sich Dattel-DNS einpflanzen lassen?", fragte der andere. Die Reise ging rasch vorüber. "Das ist Eldrehaug. Halten Sie bitte an!", rief Timo. "Hier muss ich aussteigen, und damit trennen sich unsere Wege. Darf ich noch ein Autogramm haben, Skeet Ulrich?" Er nahm eine bereits unterzeichnete Autogrammkarte entgegen und näherte sich dem Unfallort, der leicht zu finden war. Niemand hatte daran gedacht, das Lkw-Wrack zu beseitigen. Mister Ulrich fuhr von dannen. Was hatte er nur in diesem tristen Landstrich verloren gehabt?
(Fortsetzung folgt)
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