(geschrieben im Mai 2005)
Pontius van der Liet ist für ein menschliches Wesen eindeutig zu groß. Die Angewohnheit, seine Gesprächspartner zur Wahrung des Blickkontakts mit seinen enormen Pranken zu packen und vor sein Gesicht zu halten, schreckt die meisten seiner Freunde ab – deshalb hat er auch keine. Im Moment befand ich mich in seinem stählernen Griff und starrte in glasige Augäpfel. Aber lassen Sie mich kurz ausholen.
Mein Name ist Gerhard von Smyrna. Ich bin, wie man an meinem Namen erkennt, adelig. Unter der grausamen Herrschaft meiner Eltern wuchs ich auf, bis diese beim Schnorcheln in der Adria in eine Schiffsschraube gerieten. Seitdem lebe ich unter den Fittichen meines ebenfalls adeligen Cousins Pontius. Zum Beginn dieser Geschichte war ich fünfzehn Jahre alt und es ging mir gut. (Am Ende der Geschichte war ich auch fünfzehn Jahre alt; sie erstreckt sich über eine nicht allzu lange Spanne.) Pontius ließ mich tun und lassen, wonach mir der Sinn stand, und dies war im Wesentlichen Faulenzen und Fernsehen. Nicht mal mein Zimmer ersuchte er mich aufzuräumen. Himmel, was war das vormals für ein Martyrium gewesen! Meine Eltern hatten mich sogar jedes Wochenende gezwungen, meine Tapeten zu wechseln.
Es war am frühen Abend, als ich auf der Couch lag und die Fernsehshow "Lachen muss sein!" anguckte. Man zeigte Ausschnitte aus einer inzwischen abgesetzten Show, in welcher wiederum Ausschnitte aus anderen Shows gezeigt wurden, die wiederum Shows zeigten, und so weiter ... Ich wusste gar nicht mehr, welche Ebene der Realität entsprach. Die Fernsteuerung greifend, murmelte ich: "Was für eine gottlose Kacke! Ich verschwende hier nur meine Zeit." In dem Moment kroch mein Cousin aus der Sofaritze und griff nach mir wie nach einem Welpen. "Du verschwendest deine Zeit?", raunte er. "Gut, dass du das endlich merkst!" Ich zitterte und fragte den Hünen, was er vorhabe. "Du musst endlich was Sinnreiches anstellen! Ich werde dir einen Ausbildungsplatz besorgen." Dann ließ er mich fallen und stolzierte zum Telefon. "Nein, nein, alles, bloß das nicht! Ich will nicht arbeiten! Nein!", schrie ich, doch es war zwecklos. Pontius kurbelte am Fernsprecher und rief begeistert: "So wirst du wieder Sonnenlicht sehen, Gerhard. Ich kann dein Nichtstun nicht länger ertragen. Wann warst du das letzte Mal in der Schule?" Ich zuckte mit den Achseln. Bildungserwerb hatte ich nach dem Tode meiner Eltern beizeiten verworfen. Erwachsene scheinen eine absonderliche Vorstellung von dem zu haben, womit man in der Schule vollgedröhnt wird. In Mathematik befasst man sich mit Zahlen, in Biologie steht ausschließlich Tierkunde auf dem Lehrplan, in Geografie muss man Hauptstädte lernen, und in Reli wird nur gebetet – derartige Klischees findet man in elterlichen Gehirnen! Ich erachtete mittlerweile den Fernsehapparat als unterschätzten Born des Wissens. Außerdem war ich sogar des Lesens mächtig. Meine Lieblingslektüre waren der Videotext vom Sport-Kanal und die Zeitschrift Busen.
Nach wenigen Minuten hängte Pontius den Hörer ein und pfiff mich herbei. "Ich habe mit dem Arbeitsamt gesprochen. Du wirst ab morgen als Möbelpacker arbeiten. Stell dir einen Wecker!" Möbelpacker?! Der Schock fuhr mir in die Glieder. "Du spinnst wohl?", rief ich aus und rannte bockig davon. Kopflos berief ich eine Eilkonferenz mit meinen Kuscheltieren ein. Der Hohe Rat beschloss, dass ich mich meinem Schicksal zu fügen hatte. Na toll! Jetzt war ich also Möbelpacker.
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