Wenn nicht schon mehr als genügend Bücher zum Thema Bahnfahren geschrieben worden wären, würde ich eine launige "Typologie des Zugreisenden" verfassen. Aber keine Sorge, ich verschone euch damit. Nur auf eine Sorte möchte ich ganz kurz eingehen.
Es handelt sich um Frauen um die 60, die stets in Gruppen von mindestens vier unterwegs sind, dabei niemals ein Abteil, sondern immer einen Großraumtisch okkupieren und den gesamten Waggon an ihrer geradezu pathologischen Lebensfreude teilhaben lassen. Ihre Route ist natürlich keine einstündige Spritztour, sondern führt mindestens von Göttingen nach Basel oder von Karlsruhe nach Bremen. Mit dem Einsteigen beginnt ein jede Sekunde der Reise ausfüllendes, präzise durchorchestriertes Spektakel mit den drei Hauptakten 1.) Fahrtantritt, 2.) Essen, 3.) Kartenspielen.
1.) Man setzt sich nicht einfach hin und guckt aus dem Fenster wie normale Menschen, nein! "Huhuhu, ist das unser Tisch?" - "Hier steht ja noch gar nicht 'reserviert'!" - "Sind wir überhaupt im richtigen Wagen, haha?" - "Wer hat denn jetzt die Tickets?" - "Wer will am Gang sitzen, hihihi?" - "Hui, jetzt geht's los!" Nach circa 30 Minuten (wenn es gut läuft!) hat jede ihren Platz eingenommen und ihre acht bis zwölf Gepäckstücke verstaut ... welche nach einer Minute wieder ent-staut und unter großem Hallo geöffnet werden, denn es geht ja nun zu Punkt
2.) Das Wort "Picknick" wäre zu wohlwollend für das Gelage, welches sich sodann entspinnt. Die Damen haben unter anderem mitgebracht: Brote, Butter, Wurst, Käse (alles separat, damit man live Schnitten schmieren kann), Senf, Eier, Weintrauben, Bananen, Wiener, Äpfel, Radieschen, Schokolade, Joghurt, Limo, Tee, Wasser, Kaffee und nicht selten – gnade uns Gott! – Piccolöchen. Dazu: Pappteller, Plastikbecher, Brotbüchsen, Servietten, Messer, Gabel, Löffel, Erfrischungstücher, Abfallbeutel, Minisalzstreuer.
3.) Leicht angeschickert holt man nach dem Mahle die Spielkarten raus. Klar, dass jeder, aber auch wirklich jeder Spielzug kommentiert werden muss. Häufigste Frage: "Wer ist dran?" Häufigste Antwort: "Immer der fragt, hahahaha!" Weitere beliebte Phrasen: "Mischen, Traudel!" - "Bin ich dran?" - "Oh, du mogelst doch, Inge!" - "Das ist ja wie verhext!" - "Mit euch spiel ich nie wieder!" - "Bin ich schon wieder dran?" - "Hehehe, jetzt mach ich euch nackig!" - "Pech im Spiel, Glück in der Liebe, nich' wahr, Ursel?"
Einmal, nachdem ich gefühlte hundert Stunden hinter einer solchen Rotte zu sitzen gezwungen war und endlich, endlich meine Zielstation erreicht hatte, bemerkte ich beim Aufstehen unter meinem Sitz eine Spielkarte, welche die tollen Weiber wohl bei einer besonders hitzigen Partie dahin geschleudert hatten. Nett wie ich nun mal bin, hob ich die Karte auf und hielt sie den Frauen entgegen: "Die lag unter meinem Sitz, ich glaube, das ist Ihre." Worauf die Anführerin ekstatisch jauchzte: "Wie goldisch!!!"
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