Schon als ich noch ein Schüler war (*Krückstock schwenk*), drangen in nicht geringer Frequenz Stimmen in die Öffentlichkeit, die sich gegen den allzu frühen Beginn des Unterrichts aussprachen. Diese Stimmen gehörten nicht irgendwelchen dahergelaufenen Faulenzern, sondern ernstzunehmenden Wissenschaftlern. Und sie sind bis heute nicht verhallt. "Lehrer [...] sollten in der ersten Unterrichtsstunde die Ansprüche an die Kinder noch nicht zu hoch schrauben, da sich die Leistungsfähigkeit des Menschen in Bezug auf Sprachfähigkeit, Koordination und Gleichgewichtssinn erst ab 8 Uhr langsam aufbaue. Bei Pubertierenden kann das dramatisch sein." (Berliner Zeitung, 9.8.2005). "'Schüler sind sogenannte Spättypen. Das heißt: spät ins Bett, spät raus', sagt Forscher Blau. Acht Stunden Schlaf müssen einfach drin sein, da sind sich Deutschlands Schlafforscher einig. Das geht aber nur, wenn der Schlaf in den Morgen hineinreicht." ("Spiegel online", 19.9.2007) "Die innere Uhr geht in der Pubertät nach, sagen Chronobiologen. Zwingen wir Teenager dazu, früh morgens schon in der Schule zu sitzen, leiden Lernfähigkeit und Gesundheit." (Spektrum der Wissenschaft, 30.4.2015) Dutzende weiterer Artikel mit ähnlichem Tenor könnte ich verlinken, entsprechende Studien häufen sich, die Forderungen werden schärfer, auf "Spon" war neulich gar von "Folter" die Rede. Doch was ändert sich? Nach Jahrhunderten dummdeutschen Gehorsams und unhinterfragter protestantischer Gängelung natürlich: nichts. Das war schon immer so, früher ging's schließlich auch, stellt euch mal nicht so an! Sicher, vereinzelte Bundesländer gehen dazu über, den Schulen ein wenig Spielraum bzgl. der Lernzeiten zu gewähren. Wenn mal eine Schule den Unterrichtsbeginn um eine halbe Stunde nach hinten verschiebt, ist das schon eine Art Sensationsmeldung.
Ich habe das Gefühl, in keinem anderen Bereich ziehen sich Reformen so kaugummiartig hin wie im Bildungswesen. Fallbeispiel: Schleswig-Holstein hat diese Woche das "Zeugnis ohne Noten" für die Jahrgangsstufen 3 und 4 vorgelegt. Hört, hört!, möchte man rufen. Das starre, ungerechte und obsolete Notensystem durch etwas Sinnvolles zu ersetzen wird doch schon lange von Experten empfohlen! Daumen hoch für Kiel! Oder? Die Realität ist ernüchternd: Statt "sehr gut", "gut", "befriedigend" usw. heißen die Bewertungsgrade jetzt "sicher", "überwiegend sicher", "teilweise sicher", "überwiegend unsicher" und "unsicher", und die Fächer wurden einfach atomisiert (z.B. Mathematik in die Subkriterien "Muster und Strukturen", "Raum und Form" sowie drei weitere), wobei es – als Verschlimmbesserung der Kopfnoten – zusätzlich sieben "überfachliche Kompetenzen" wie "Teamfähigkeit", "Engagement" und ähnlichen neoliberalen Mumpitz gibt. Eine Mogelpackung.
Es ist wohl so: Die für das Schulwesen Verantwortlichen sind allesamt selbst mal zur Schule gegangen, und weil sie dabei schlechte Erfahrungen gemacht haben und es trotzdem irgendwie geschafft haben, lautet die Devise "Augen auf und durch, lieber Nachwuchs!" Und dank dieser sich selbst in den Schlangenschwanz beißenden schlechten Metapher bleiben deutsche Schulen jene lebensfeindlichen Seelenzermürbungsanstalten, die sie schon immer waren. Kretinöse Sozialdarwinisten wie Hilmar Klute sehen darin natürlich eine Vorbereitung auf "die richtige Welt, in der immer ein paar unterwegs sind, welche die anderen überholen. Und in welcher die Überholten irgendwann kapieren, dass sie sich halt mal was ausdenken müssen, damit sie demnächst zu den Überholenden gehören." #kotz
Was ich eigentlich erzählen wollte: Als ich in der 11. Klasse war, kam einmal das tschechische Marionettenpuppenduo Spejbl und Hurvínek zu einem Gastspiel in unsere Turnhalle. Das durfte ich mir nicht entgehen lassen! Um den Auftritt sehen zu können, schwänzte ich die zur selben Zeit anstehende Biologie-Doppelstunde – als einziger in unserem Kurs. Und was durfte ich mir in der darauffolgenden Stunde anhören? Vermutlich so etwas wie "Meinen Sie, dass Sie sich das leisten können bei Ihrem Punkteschnitt?", worauf ich vermutlich etwas murmelte wie "Tschulligung". Heute sage ich mit voller Überzeugung: Ich bin froh, dass ich damals zu der Puppenshow gegangen bin, denn daran erinnere ich mich selbst nach all den Jahren noch (*Krückstock schwenk*)! Hätte ich mir stattdessen angehört, wie schnell ein endoplasmatisches Retikulum ist, wo die kleinen T-Helferzellen herkommen oder wie viele Vakuolen die Sumpfdotterblume hat: das hätte ich bis heute vergessen!
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