Der Spiegel von letzter Woche – manchmal ist er halt doch ganz brauchbar – befasste sich mit einem mir bis dahin unbekannten historischen Bizarro-Ereignis, über das erstmals der Bischof Johannes von Ephesos schrieb: Im Jahr 560 n. Chr. hielten sich die Einwohner der Stadt Amida, dem heutigen Diyarbakır in der Türkei, offenbar plötzlich für Hunde. "Vom Irrsinn Befallene rannten auf allen vieren kläffend durch die Straßen, orientierungslos und mit Schaum vor dem Mund. Kratzend und beißend fielen die Menschen übereinander her. Wie von Sinnen brüllten sie Obszönitäten und okkupierten jaulend die Friedhöfe." (Spiegel 42/2015, S. 116)
Nun hat die Medizinhistorikerin Nadine Metzger von der Uni Nürnberg-Erlangen in einem Artikel in History of Psychiatry dargelegt, was es mit jenem eigenartigen Vorfall auf sich gehabt haben könnte. Demnach habe der Chronist lediglich die Stilmittel des Vergleichs und der Übertreibung eingesetzt, um gotteslästerliches Treiben und moralische Verkommenheit zu umschreiben: "Angesichts der Bedrohung durch die kriegerischen Perser verwandelten sich die Bewohner nicht in Hunde, sondern in Zivilisationsverweigerer und Anarchisten." Das klingt plausibel, ist aber letztlich nur eine Theorie. Ich habe den vollständigen Artikel nicht gelesen, und mir ist klar, dass sich die Wissenschaftlerin, die sich schwerpunktmäßig mit der psychologischen Erklärung von Besessenheit in der Menschheitsgeschichte beschäftigt, mehr Ahnung hat als ich, doch gebe ich zu bedenken, dass kollektiver Wahn, auch in Verbindung mit tierischem Verhalten, mehrfach belegt ist. Ich verweise nur auf das in Japan auftretende Phänomen Kitsune und andere Culture-bound syndromes. Für den Beleg eines solchen CBS spricht auch – der Spiegel erwähnt es sogar – die Wortprägung "Kynanthropie" (kyn- "Hund-"; ánthrōpos "Mensch") des Arztes Aëtios von Amida, der sich in der fraglichen Zeit ebendort aufhielt. Mir gefällt jedenfalls die Vorstellung, dass mal eben eine ganze Stadt auf den Hund kommt.
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