Vor einigen Wochen spielte ein findiger Finder der Titanic-Redaktion (wo ich arbeite) das Inhaltsverzeichnis eines leicht abstrusen wissenschaftlichen Sammelbandes zu: "Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin". An die Herausgeber schrieb ich daraufhin für das Oktoberheft 2016 diesen Brief an die Leser:
Hartmut Böhme und Beate Slominski!
Sie sind Herausgeber eines im Verlag Wilhelm Fink erschienenen Bandes mit dem Titel »Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin«, was wir – wenn auch leider gerade in der analen Phase steckenden – Lesefreunde völlig in Ordnung finden. Über Ihr mehr als naheliegendes Grundlagenkapitel »Einführung in die Mundhöhle« haben wir genausowenig zu maulen wie über den Aufsatz »Ethik in der Zahnheilkunde« oder die Beantwortung der bohrendsten Fragen »zur Traumsymbolik von Zähnen«. Mit offenen Mündern saßen wir über den Texten »Ästhetik und Anästhetik des Mundraums«, »Zähne in der Literatur« und »Schlingen und Würgen im Werk von Christoph Schlingensief«. Als wir schließlich den Rausschmeißer »Die Zähne fressen das Orale. Marshall McLuhans Update des Kadmos-Mythos« durchgekaut hatten, waren zwar unsere Speichelkanäle versiegt, doch wußten wir so sicher wie nie: Im Wissenschaftsbetrieb wird noch die abstruseste Quatschidee mit Zungenkußhand genommen und publiziert. Lipp-lipp, hurra!
Eine Frage haben wir aber noch: Wird es ein Hörbuch geben? Sinnlich eingesprochen, ja: -geschmatzt und mit unbearbeiteten Kau-, Beiß- und Schnalzgeräuschen als Bonustracks? Das wäre doch ausgesprochen köstlich!
Sagt »Aaaaaa«: Titanic
Kurz darauf erreichte uns eine E-Mail folgenden Inhalts (in Auszügen):
"Sehr geehrte Damen und Herren [...] Auf S. 11 mokieren Sie sich über das Buch 'Das Orale' von
Böhme/Slominski. Ich setzte voraus, daß ich weder Fr. Slominski noch
Hrn. Böhme persönlich kenne. Von der eventuellen Mutmaßung, ich würde
hier als 'Ghost-Writer' fungieren, bitte ich Sie von vornherein Abstand
zu nehmen. Es steht Ihnen frei, eine Publikation sinnvoll oder sinnlos
zu finden, aber mit Ihrer pauschalisierenden Feststellung, im
Wissenschaftsbetrieb werde noch die abstruseste Quatschidee mit
Zungenhandkuß genommen und publiziert, stimmen Sie mit ein in das
aktuelle Stammtischniveau, das als 'abstrus' diffamiert, womit es sich
nur nicht auseinandersetzen möchte. [...] Und haben Sie sich schon einmal überlegt, ob das
Thema nicht eigentlich hochbrisant ist in Zeiten, da die Zahnsubstanz
bei einem hohen Bevölkerungsteil zwischen untere Mittelschicht und Hartz
IV ernäherungsbedingt und durch Umwelteinflüsse stark beeinträchtig und
gleichzeitg die Zahnzusatzversicherung im Berufsleben zu einem sozialen 'Must have' geworden ist? (Sie persönlich sehen auf den Fotos nicht so
aus, als ließen Sie Ihre Zähne verlottern und retouchierten dann die
Bilder.) Abgesehen davon, daß uns allmählich der Biß verloren geht. U.a.
auch Ihrem Magazin."
Tja, es juckt mich in den Fingern, dem guten Mann eine ernsthafte Antwort zu geben. Ich könnte etwas von gespielter Oberflächlichkeit, dem Bedienen von Ressentiments und meinem Spaßprinzip "Wortspiel vor Inhalt" schreiben, evtl. aufführen, dass ich dem Wissenschafts(publikations)betrieb selbst nicht ganz fremd bin, und zugeben, dass ich mich sogar ein bisschen schäme; aber Satire zu verteidigen ist halt meistens lahm und letztlich fruchtlos.
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