Familie Schakal war außer Puste. Mutter Sylphe, Vater Franz, Tochter Frenja und Sohn Eins kamen überein, dass es Zeit für eine Pause sei. Seit den frühen Nachmittagsstunden hatten sie geschuftet, allmählich wurde es dunkel. Nun gut, das bedeutete, dass die vier lediglich zwei Stunden gearbeitet hatten, denn langes Ausschlafen war ihnen auch am Silvestertage heilig. Trotzdem war allerhand zu tun gewesen. Um sich an diesem außergewöhnlichen Jahreswechsel ein Quentchen Routine vorzugaukeln und Ablenkung zu schaffen, hatten sich die Schakals vorgenommen, extra viel Mühe in ihre Feier zu stecken.
Die Mutter rollte Mini-Maiskölbchen in Bierschinken ein; der Vater zauberte aus Möhren, Käse, Rosinen und gekochten Eiern essbare "Mäuse"; die Kinder setzten verschiedene Bowlen an (das hatten sie in einer Ausgabe von "Checker Julian" im KiKa gelernt, weil in diesem Jahr war eh alles egal). "Also, 15 Minuten Pause", schnaufte Vater Franz. "In der Zwischenzeit können wir uns überlegen, was alles auf die Playlist soll. Welche Lieder oder Alben fallen euch ein?" – "'Auld Lang Syne' in ganz vielen Versionen!", sagte Sohn Eins. – "Den 'Jurassic Park'-Soundtrack", schlug Mutter vor. – "Alles von Hanne Haller!", warf Frenja ein. – "Fein, fein, fein", freute sich Franz, "und gegen die Chipmunks habt ihr sicher auch nichts?" Da klingelte es an der Tür. Der Vater sprang von seinem Hocker auf und bedeutete seinem Filius, ihm zur Tür zu folgen.
"Lieferung für Schakal!", tönte es vom Grundstückstor bis zur Haustür hinüber, bevor die beiden Letztere geöffnet hatten. Franz lächelte vorfreudig und rief dem Lieferanten zu: "Lassen Sie das Paket ruhig vor dem Tor stehen, mein Sohn und ich tragen es gleich nach hinten in den Garten." – "Das ist nett", sagte der Mann hörbar erleichtert durch seinen Mundschutz hindurch. "Es ist wirklich sehr schwer. Was ist das überhaupt? Halt, sagen Sie's nicht, das geht mich nichts an. Ich liefere bloß pünktlich die Ware aus und stelle keine Fragen. Wird schon seinen Zweck haben, dass Sie heute, an Silvester, so ein monströses Ding erwarten ..." – "Ganz recht, junger Mann", nickte Franz und steckte dem Fahrer zwinkernd einen selbstgebastelten Fantasie-Geldschein zu ("30 Danke-Dollar"). – "Junger Mann?", erwiderte dieser. "Ich bin 67. Heute ist mein letzter Arbeitstag. Ich muss auch schon weiter, eine Europalette mit leicht zerbrechlicher Ware nach Rastatt bringen. Ach, wissen Sie was? Ich glaube, die schneide ich auf. Das interessiert mich jetzt doch, was da drin ist. Ich kann ja später behaupten, die Umverpackung sei beim Transport beschädigt worden. Von einem Marder!" Doch dieser Monolog entging Vater und Sohn bereits, hatten sie doch direkt behände zugepackt und die mysteriöse Lieferung in den Garten gewuchtet. Daher bekamen sie auch nicht mit, wie der Lieferwagen kurz darauf am Horizont in einer schwarzen Rauchwolke aufging (was für die Geschichte aber nicht wichtig ist).
"Es ist tatsächlich angekommen!", jubilierte Sylphe. "Auf ███ ist eben Verlass." – "In der Tat", sekundierte Franz. "███ ist nun mal der landesweit schnellste Versandservice." – "Kein Wunder, dass ███ regelmäßig die Bestnote in der Kategorie Zuverlässigkeit der Zeitschrift Logistik Heute erhält", merkte Eins an. Und Frenja schrie: "Ein Hoch auf ███!" Gemeinsam befreiten sie den massigen Inhalt von seinem Pappmantel. Zum Vorschein kam: ein Block Blei.
"Ab in die Wanne damit", drängte Frenja. Ebenjene Wanne schob Mutter Sylphe sogleich aus dem Geräteschuppen: ein rollbares Metallgefäß ähnlich einer Schubkarre, aber mit mehr Volumen, auf Baustellen zum Sammeln und Transportieren von Schutt oder Ziegeln verwendet. Franz hatte sie von einem befreundeten Polier geliehen, hatte aber nicht vor, sie zurückzugeben. Gemeinsam beförderten die vier den Bleiklumpen in die Wanne und entfachten darunter ein Feuer, um ihn bis spätestens 24 Uhr schmelzen zu lassen. "Klasse Idee, diese sogenannte Gelfeuerstelle", lobte Eins den praktischen Brenntopf aus Edelstahl. "Die Flammen können wir lodern lassen, ohne uns Sorgen machen zu müssen."
Gänzlich unbeaufsichtigt lassen konnten die Schakals die Apparatur freilich nicht. Hin und wieder musste das Blei gewendet bzw. umgerührt werden. Das Ziel dieses Experiments hat die werte Leserin, der werte Leser bestimmt längst erraten: Die Familie hatte vor, das spektakulärste Bleigießen aller Zeiten zu veranstalten. Hintergrund: Im Jahr 2020 hatte die Regierung den Verkauf von Feuerwerkskörpern und das Böllern in der Öffentlichkeit untersagt. Einige Kommunen hatten ihre Einwohner zu mehr oder weniger einfallsreichen Alternativen angeregt: In Kiel sollten alle Haushalte um Punkt 22 Uhr ihre Mikrowelle laufen lassen; in Herne wollten die Einheimischen zu jeder vollen Stunde das Wort "Rakete" aus dem Fenster brüllen. Solche Ersatzrituale waren den Schakals zu doof, und so hatten sie diese Sonderform des Schwermetall-Orakels ersonnen, welches ohnehin eine liebe Tradition in ihrem Hause war.
Die Zeit schritt stracks voran. Man unterhielt sich, spielte Kniffel, das Buffet war um Party-Champignons, Quäse-Pumpernickel und Salami im Blätterteig ergänzt worden und die Playlist um eine längere Screamo-Strecke. Der 18-jährige Sohn und die fünfjährige Tochter gingen abwechselnd alle 15 Minuten ins Freie, um nach dem Blei zu sehen, das sich inzwischen anständig verflüssigt hatte. "Ich glaube, wir können!", verkündete Frenja, als sie von draußen zurückkam. Es war kurz nach halb zwölf. "In Ordnung, lasset uns gießen", bestimmte Mutter Sylphe. "Danach machen wir eine Polonäse."
Man begab sich zu der verheißungsvoll dampfenden Bleiwanne und positionierte sie am Beckenrand des Swimming-Pools. Der Vater zog sich zwei rot-weiß-karierte Ofenhandschuhe an. "Ich werde das flüssige Metall mit einem Ruck ins Wasser gießen. Das Gebilde, das entsteht, wenn sich das Blei verfestigt, soll symbolisch voraussagen, wie unser aller 2021 werden wird. Womöglich sehen wir ein Flugzeug, das steht dann für eine Fernreise. Oder einen Sarg, der unseren sicheren Tod ankündigt ..." – "Mensch Papa", maulte Sohn Eins, "mach hin! Wir wissen, wie Bleigießen funktionert." – "Das war doch nur für die Lesenden, die erst jetzt eingestiegen sind", rechtfertigte sich Franz. "Aber gut. Achtung ... fertig ... hopp!" Das heiße Grau ergoss sich wie ein Lavastrom im Zeitraffer in den Pool. Ein scharfes Zischen begleitete die nahezu augenblickliche Änderung des Aggregatzustands. Sobald es verklungen war, sprangen die vier Schakals in das Schwimmbecken, tauchten auf den Grund und bargen den verhärteten Bleibatzen. Als sie ihn auf die Wiese fallen ließen, trauten sie ihren Augen kaum: Vor ihnen lag eine bleierne Skulptur, die exakt so aussah wie der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Dieter Wiefelspütz.
Fortsetzung folgt.
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