Donnerstag, 20. Mai 2021

Let's drink ... poison?

In einer Kurzgeschichte der hier wiederholt erwähnten Dorothy L. Sayers spielt ein alkoholisches Getränk namens Noyeau eine tragende Rolle. (Spoiler für eine 80 Jahre alte Kriminalgeschichte, I guess:) Es ist, wie der fahrende Weinhändler und Hobbyschnüffler Montague Egg aufklärt, dafür verantwortlich, dass eine fahrlässige Selbsttötung beinahe als Mord interpretiert wurde. Aber lassen wir doch den Text selbst sprechen.

"Noyeau ist ein Likör, dem das Aroma der Bittermandel zugesetzt ist – oder von Pfirsichkernen; verbessern Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage, Mr. Egg –, so daß er eine geringe Menge Blausäure enthält."
"Richtig", sagte Monty. "Natürlich reicht die Menge normalerweise nicht aus, um jemandem zu schaden, der ein oder auch zwei Gläschen davon trinkt. Aber wenn man die Flasche lange genug stehen läßt, steigt das Bittermandelöl nach oben, und es ist schon vorgekommen, daß das erste Glas aus einer Flasche Noyeau jemanden getötet hat. [...]"
"Könnten Sie etwas genauer sagen, was Sie damit andeuten wollen, Mr. Egg?" fragte der Polizeichef.
"Keinen Mord, Sir", sagte Monty. "Nein, nein, das nicht – obschon es in gewisser Weise darauf hätte hinauslaufen können. Ich vermute, daß Mr. Whipley, nachdem Mr. Raymond sein Arbeitszimmer verlassen hatte, unruhig und nervös wurde, wie es nach einer großen Aufregung vorkommt. Er geht an den Schrank – dort sagt ihm anscheinend auf Anhieb nichts zu; er sucht und stößt auf die alte Flasche Noyeau, die dort seit vierzig Jahren ungeöffnet steht. Er nimmt sie heraus, entfernt das Verschlußsiegel und wirft es ins Feuer, dann zieht er mit dem Korkenzieher den Korken heraus, wie ich es ihn so manches Mal habe tun sehen. Er schenkt sich das erste Glas ein, ohne sich der Gefahr bewußt zu sein, trinkt es aus, während er auf seinem Stuhl sitzt, und stirbt, ehe er noch Zeit hat, um Hilfe zu rufen."

Noch während der Lektüre googelte ich, ob dieses Getränk tatsächlich existiert oder existiert hat. Hat es! Und nicht nur das: Seit ein paar Jahren vertreibt der auf "außergewöhnliche Spirituosen aus alten Zeiten" spezialisierte Hersteller Tempus Fugit Spirits unter dem Namen "Crème de Noyaux" eine moderne Interpretation des historischen Likörs. Dass der im 19. und frühen 20. Jahrhundert bestehende Nervenkitzel durch die Anpassung der Rezeptur getilgt wurde, fand ich zwar schade, doch war ich neugierig genug, mir eine Flasche zu bestellen.


Mmhhh, machen die Art-Nouveau-Anmutung des Etiketts und die Farbe des Glasinhalts nicht sofort Lust, sich in das verrauchte Séparée einer Goldene-Zwanziger-Retrobar zu absentieren, wenn nicht gar zu absinthieren? Also mir nicht, denn es ist noch nicht mal zehn, da ich diese Zeilen schreibe! Aber zum Tagesausklang 1-2 cl dieses exquisiten Drinks, ja, doch, das genehmige ich mir einmal die Woche. Die Aromareise beginnt mit vollmundigem Amaretto-/Marzipan-Flavor mit kirschigem Unterton und endet mit der verheißenen Note von "Bittermandel" (so der Titel der Sayers'schen Short story). Das ist alles sehr rund und keineswegs zu süß oder "klebrig". Dass dieser Likör, der vermutlich keine 40 Jahre in meinem Schrank überdauern wird, etwas Besonderes ist, merkt man auch an dem Preis von 36,90 Euro. Der Alkoholgehalt beträgt 30 %.

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