Noch bis zum 31. Oktober kann man im Dom von Merseburg die zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehörenden Merseburger Zaubersprüche im Original anschauen. Anlässlich des tausendjährigen (!) Jubiläums der Domweihe wurde die Schrift aus dem Archiv geholt und wird als Teil der Sonderschau "Jahr1000Schätze" ausgestellt. Als ich davon in der Zeitung las, plante ich sogleich einen Stop-over, den ich auf eine anstehende gleisgebundene Ost-West-Reise legte. Ich möchte allerdings Entwarnung geben: Der Anblick könnte ein wenig underwhelming sein, handelt es sich bei den Sprüchen doch nur um einen unauffälligen (und schließlich erst 1841 entdeckten) Zusatzeintrag in einer Sammelhandschrift, die aufgeschlagen in einem Glaskasten liegt. Zwei der ältesten Zeugnisse der deutschen Sprachgeschichte, zumal welche von so singulärem Inhalt, in natura zu sehen, hat trotzdem etwas fürwahr Magisches; wer aber vorhat, die karolingischen Minuskeln aus wenigen Zentimetern Entfernung zu studieren, ist besser damit beraten, eine der vier digitalen, mit hervorragendem Erklärungsmaterial ausgestatteten Digitalversionen im nahen Multimediasaal aufzusuchen.
Die echte Handschrift durfte man nicht fotografieren.
Davon abgesehen ist der ganze sachsen-anhaltinische Ort an der Saale unbedingt einen Besuch wert. Neben dem imponierenden Dom gebietet die geschichtsträchtige ehemalige Bischofsstadt auch noch über ein gleichermaßen beeindruckendes Renaissanceschloss mit eigenem Museum. Kurzum: Die drei Stunden, die mir zur Verfügung standen, reichten kaum aus, um Merseburg in seiner vollen Pracht zu erkunden.
Zurück zu den Zaubersprüchen (ab hier brauchen im Grunde nur Nerds weiterzulesen). Sie sind für Merseburg derart identitätsstiftend, dass man sie groß auf eine Wand im Bahnhofsgebäude gepinselt hat:
Mir sind die "MZ" (gern benutzte Abkürzung) zum ersten Mal im Deutschunterricht der Sekundarstufe I begegnet, ich weiß noch, wie sie als bedeutender Punkt in einer Übersicht der deutschen Literaturgeschichte erwähnt wurden. Später an der Uni haben wir sie dann im Althochdeutsch-Seminar übersetzt, und auf Spruch Nummer 2 bin ich in meiner 2010 vorgelegten Dissertation, die sich mit dem Pferd bei den Indogermanen beschäftigt, eingegangen. Ich darf mich zitieren:
"Im 2. Merseburger Zauberspruch (9./10. Jh. n. Chr.)
spielt Balders Fohlen eine zentrale Rolle: Phol ende uuodan uuorun zi
holza. Du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkit. ('Phol? und Odin
fuhren in den Wald. Da verrenkte sich Balders Fohlen den Fuß.') Es ist
nicht ganz klar, ob Odin auf Balders Fohlen reitet oder Odin und Balder
auf ihren jeweiligen Pferden unterwegs sind. Entscheidend ist das Wort
Phol, das entweder für nhd. Fohlen steht oder ein Synonym des Gottes
Balder ist. Für letzteres spricht die Tatsache, dass der altenglische Ortsname Polesléah
auch als Balderes lêg bekannt war ('Hain des Phol/Balder'). Als sich
das Fohlen den Fuß verrenkt, wird es von Sinthgunt und Frija besprochen,
doch erst Odin vermag das Tier kraft seiner Worte zu heilen:
Sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki: ben zi bena, bluot zi
bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin.
Sei es Knochenverrenkung, sei es Blutverrenkung, sei es Gliederverrenkung:
Knochen zu Knochen, Blut zu Blut, Glied zu Glied, so
seien sie 'geleimt' (verbunden).
Ein identisches Schema taucht in einem Zauberspruch des Atharvaveda
auf (s. Kap. 4.2.3.1), und auch im Germanischen gibt es weitere Parallelen.
Der altsächsische Wurmsegen (1227 n. Chr.) soll den Wurm 'aus
dem Mark in den Knochen, vom Knochen ins Fleisch, vom Fleisch in die Haut und von der Haut in den Pfeil' treiben, wobei mit 'Pfeil' (altsächsisch strala)
vielleicht der pfeilförmige Hufstrahl des Pferdes gemeint ist. Aus derselben
Zeit wie der 2. Merseburger Zauberspruch stammt der sog. 2.
Trierer Spruch, dessen Anfang wie folgt lautet: 'Es kam Christus und St. Stephan zur Burg zu Salonae. Da ward
St. Stephans Pferd verfangen. Wie Christus dem Pferde St.
Stephans das Verfangensein heilte, so heile ich es mit Christi Hilfe
diesem Pferde.' Es ist das exakte Muster wie beim 2. Merseburger Zauberspruch, nur
mit christlichem Überbau. Ähnlich liest sich auch eine spätere schwedische
Formel: 'Fylli ritt den Berg hinab. Das Pferd verrenkte seinen linken Fuß.
Da begegnete er Freya. - Ich will dein Pferd heilen und das verstauchte
Gelenk wieder einrenken!'"
Zum altindischen Atharvaveda habe ich dann dies geschrieben:
"Der im Hinblick auf das Thema 'indogermanische
Dichtersprache' beachtenswerteste Spruch ist AVŚ 4.12
über eine Pflanze namens arundhatī, mit der man Knochenbrüche kurieren
kann. Die formelhaften Wendungen nach dem Muster 'Haar zu
Haar, Körperglied zu Körperglied' erinnern stark an germanische Texte,
insbesondere den 2. Merseburger Zauberspruch, der die Heilung eines
verletzten Pferdes zum Inhalt hat (vgl. Kapitel 8.2.1). AVŚ 4.12 bezieht
sich zwar nicht auf Pferde, doch gibt es immerhin einen Vergleich zum
Wagen: 'run forth, (as) a chariot with sound wheels' (4.12.6), 'may he fit
him together, joint to joint, as the wagoner the parts of the chariot!'"
Die Einordnung der MZ in das große Ganze unter der Lupe der vergleichenden Sprachwissenschaft habe ich in der Ausstellung tatsächlich ein wenig vermisst. Ansonsten war ich erstaunt darüber, wie viele offene Fragen die umfangreiche Forschungsarbeit zu den Zaubersprüchen noch immer nicht schließen konnte. Einen erschöpfenden ersten Überblick bietet übrigens die Wikipediaseite zum Thema.
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