Angenommen, Russland selbst habe letzte Woche kommuniziert: "Nächste Woche (werktags) werden wir die Ukraine angreifen, und der Angriff wird überraschend kommen." (Ich weiß, so funktioniert Diplomatie nicht, aber stay with me ...) Die ukrainische Regierung kann nun wie folgt argumentieren: "Wenn bis zum Ende des Donnerstags kein Angriff stattgefunden hat, wissen wir, dass er für den nächsten Tag geplant sein muss; dann wäre es aber keine Überraschung mehr. Bleiben noch vier mögliche Tage. Wenn wir bis zum Ende des Mittwochs keinen Angriff erlebt haben, muss er am Donnerstag geschehen, womit das ebenfalls keine Überraschung mehr wäre. Mit dieser Denkmethode können wir auch den Mittwoch, den Dienstag und den Montag ausschließen und schlussfolgern, dass es überhaupt keinen Angriff geben wird, hurra!" Dann aber kommt der Mittwoch, und die Invasion wird durchgeführt, wie von den USA vorausgesagt. Da haben wir unser Paradox. Oder doch nicht?
Laut Ian Stewart sieht es nur "aus wie ein Paradox, ist aber keins". Er führt aus (ich zitiere mit entsprechend auf unser Szenario angepasstem Vokabular): "Die [ukrainischen Regierenden] verkünden jeden Morgen voll Überzeugung: 'Heute wird der [Angriff] sein.' Das tun sie insbesondere an dem Tag, an dem der [Angriff] tatsächlich stattfindet, und können dann mit Recht behaupten, dass der [Angriff] keine Überraschung war. Diese Aussage ist eine Art fauler Zauber – wahr, aber trivial. Einen, der täglich mit der Überraschung rechnet, kann nichts überraschen. [...] Die Unklarheit entsteht dadurch, dass die Akteure der Geschichte [...] nie etwas tun, sondern sich immer nur etwas vorstellen.
Ich behaupte hier zweierlei. Erstens hängt das Paradox daran, was man unter 'Überraschung' versteht. Zweitens, und wichtiger: Unabhängig von dem ersten Punkt gibt es zwei logisch gleichwertige Beschreibungen für die Vorhersagestrategie der [Ukrainer]. Eine ist die oben zitierte, die ein echtes Paradox nahelegt; die andere ersetzt hypothetische Handlungen durch echte und macht dadurch aus dem vorgeblichen Paradox eine zutreffende, aber unbedeutende Aussage."
Das ist natürlich nur eine Herangehensweise unter vielen, denn wie wir auf der verlinkten Wikipediaseite lesen, gibt es "in der akademischen Diskussion nach wie vor keine Einigung über die Lösung", i.e. darüber, wo der Fehler in der Logik der Schüler/Angegriffenen steckt. Ich persönlich neige zu der Ansicht, dass das Schein-Paradox nur dann zum Paradox wird, wenn man das Konzept einer "angekündigten Überraschung" überhaupt akzeptiert. Wenn ja, darf das Element Überraschung/Unvorhersehbarkeit bis zum Schluss des Vorhersagezeitraums nicht aufgegeben werden. Bezogen auf den Fall des hinzurichtenden Delinquenten schreibt Wikipedia: "Der Gefangene geht nämlich davon aus, dass die Aussage, er werde in der nächsten Woche überraschend hingerichtet, wahr ist; wenn er aber eine unerwartete Hinrichtung voraussetzt, kann er selbst am Samstagabend nicht davon ausgehen, dass er am Sonntag hingerichtet wird, da dies seiner eigenen Annahme widerspräche. Ergo kann der Gefangene selbst am Sonntag überraschend hingerichtet werden".
Zudem steht, auch darauf weist Wikipedia hin, die Methodik der Rückwärtsinduktion schon auf wackligen Füßen: Die "Argumentation [des Gefangenen / der Schüler / der Ukraine] setzt stillschweigend voraus, dass [er noch am Leben sein wird / sie den Test noch nicht geschrieben haben werden / sie noch nicht angegriffen worden sein wird], um sich sicher oder überrascht zu sein. Oder anders formuliert: Aus der Voraussetzung, dass [die Hinrichtung / der Test / der Angriff] bis einschließlich [Samstag/Donnerstag] nicht stattgefunden hat, ist richtig zu folgern, dass auch der [Sonntag/Freitag] als Termin [der Hinrichtung / des Tests / des Angriffs] ausfällt."
Jaha, da brummt einem der Schädel. Hoffen wir einfach, dass das alles bloß Gedankenspiele bleiben.
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