Donnerstag, 31. März 2022

Betr.: Tennis-Aus, Horrorautor, Payback, Freund

Die australische Tennisspielerin Ashleigh Barty hängt den Schläger an die Wand. Hinsichtlich ihrer Entscheidung wird die 25-Jährige mit den Worten zitiert: "I know how much work it takes to bring the best out of yourself. It’s just I don’t have that in me anymore." (Hervorhebung durch mich.) Sprich: Sie hat nicht mehr das Zeug dazu, packt es nicht mehr, traut es sich nicht mehr zu, und was dergleichen idiomatischer Umschreibungen mehr sind. Was aber macht eine große deutsche Qualitätszeitung aus dem Satz und druckt's als Oberzeile in ihren Sportteil? "Ich habe das nicht mehr in mir".

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Apropos schlecht übersetzt: Vor einer Weile habe ich mir Stephen Kings es von der Dicke her fast mit "Es" aufnehmen könnenden Roman "Tommyknockers" aus dem Bücherschrank gekrallt und bin letzte Woche auf Seite 355 angekommen. Dort gibt es einen Schmunzler. Denn wie später in "Elevation" und "Mr. Mercedes" (ich berichtete) hat sich der Autor in die im Bundesstaat Maine angelegte Kulisse selbst eingebaut: "Franks Nichte, Bobbi Anderson, wohnte jetzt dort – natürlich betrieb sie keine Landwirtschaft; sie schrieb Bücher. Ev hatte kaum je ein Wort mit Bobbi gewechselt, aber sie hatte einen guten Ruf in der Stadt. Sie bezahlte ihre Rechungen pünktlich, sagten die Leute, und klatschte nicht. Außerdem schrieb sie gute alte Westerngeschichten, die man verschlingen konnte, nichts mit erfundenen Monstern und unanständigen Wörtern wie in den Büchern von diesem Burschen, der in Bangor wohnte."

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Jedes Mal, wenn ich irgendwo meine Payback-Karte einsetze, erhalte ich eine E-Mail, die mir mitteilt, wie viele Bonuspunkte ich für die eben getätigte Transaktion gutgeschrieben bekommen habe.
Am Montag nun habe ich innerhalb kurzer Zeit erst bei Rewe, dann bei dm eingekauft und jeweils mit der Payback-, die zugleich eine Kreditkarte ist, gezahlt. Wieder daheim, wurde mir vermittels meines Maileingangs erstmals klar, was der Unterschied zwischen Rewe und dm ist: Die Betreffzeile zur Mail mit dem Payback-Update von Rewe lautete "Dein neuer Punktestand!", während die der dm-Mail lautete: "Ihr neuer Punktestand!".

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Neulich von einer besonderen Figur im US-amerikanischen Recht gelesen: der des Amicus Curiae. Dieser "Freund des Gerichts" fungiert als eine Art Berichterstatter oder sachverständiger Zeuge in Prozessen mit gesellschaftlicher Relevanz, darf aber parteiisch sein und im Rahmen seiner Stellungnahme, die stets als formales schriftliches "Gutachten" vorzulegen ist, neue Rechtsfragen aufwerfen. Weltweit gesehen ist der anglo-amerikanische Amicus Curiae ziemlich einzigartig, jedoch zum Beispiel auch am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte etabliert.
"Auch wenn der Amicus Curiae in der deutschen Rechtsordnung nicht normativ verankert ist, so treten in der Praxis durchaus Personen in dieser Rolle an die Gerichte heran. [...] Das bis dato prominenteste Beispiel war eine Stellungnahme der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V., die diese im September 2018 in einem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 29.1.2020, Az. 6 A 1.19 u.a) eingereicht hatte. Darin ging es um die Frage, ob das Vereinsverbot gegen die Betreiber des Internetportals 'linksunten.indymedia.org' rechtmäßig ergangen war". Ein lesenswerter Gastbeitrag in der "Legal Tribune online" (Zitat von dort) ordnet das Rechtsinstitut historisch ein und erklärt, welche Rolle es hierzulande künftig spielen könnte, nachdem die Tesla Manufactoring Brandenburg SE sich letztes Jahr zum Amicus Curiae aufgeschwungen und am OVG Berlin-Brandenburg unbestellt einen interessegeleiteten Schriftsatz zu einem die sog. Gigafactory betreffenden Verfahren eingereicht hat. Bestehendes Prozessrecht müsste freilich angepasst werden. "Als Vorbild innerhalb des kontinentaleuropäischen Rechtskreises könnte Frankreich dienen. Denn jenseits des Rheins ist der Amicus Curiae bereits seit über zehn Jahren im Code de Justice Administrative normiert – wenngleich er praktisch eher selten genutzt wird."

Dienstag, 29. März 2022

Ruinen und Traumata

Wow, das erste "Porno"-Update seit über sieben Jahren ...

1. Auf das Schlagwort Ruin porn als Synonym für Ruinen-Fotografie stieß ich, als ich die fabelhafte Urban-Exploration-Bibel "Access All Areas" des viel zu früh verstorbenen "Infiltration"-Masterminds (und Schöpfer des Begriffs urban exploration) "Ninjalicious" durch hatte und noch mehr zum Thema lesen wollte.

2. In einem Gespräch mit dem Spiegel äußert die afghanische Aktivistin Pashtana Durrani den Satz "Afghanistan war zwei Jahrzehnte lang der Trauma-Porno für die ganze Welt", was in gekürzter Form auch gleich als Überschrift des Interviews Verwendung findet.

Sonntag, 27. März 2022

Meine zehn zuletzt gesehenen Filme

Don't Look Up
Wenn morgen Nacht die Oscars verliehen werden, greift womöglich auch "Don't Look Up" die eine oder andere Trophäe ab. Unter anderem nominiert ist, zum dritten Mal in Folge, Adam McKay (erneut auch Regie) für das beste Original-Drehbuch, welches er diesmal gemeinsam mit David Sirota geschrieben hat. Gönnen täte ich es ihm, wobei ich den 2019 in dieser Kategorie leer ausgegangenen "Vice" in Sachen Dialogschärfe und Pointiertheit noch überzeugender fand. Ich fürchte fast, hier liegt ein Fall des Phänomens vor, dass die überbordende Starpower (Meryl Streep, Leonardo DiCaprio, Jennifer Lawrence, Cate Blanchett, Jonah Hill, Timothée Chalamet, to name a lot) die Story unter sich begräbt, zumindest deren Feinheiten durch den Eindruck "Mainstream-Kino mit großen Namen" schwerer herauszufiletieren macht. Nun gut, sonderlich vertrackt ist der satirische Überbau nicht. Dass es clevere Spitzen und Seitenhiebe in alle möglichen Richtungen gibt, hat mich erfreut. Unterm Strich: Vergnügen pur!

Antlers
Indigene Mythologie trifft auf kindliche Ängste. Ein gefälliger Mix, dessen Wirksamkeit sicher auch Produzent Guillermo del Toro zu verdanken ist ("Pans Labyrinth" lässt grüßen). Zum Produktionsteam gehört weiters David S. Goyer (Drehbuch zu "Batman Begins", "Batman v Superman: Dawn of Justice" u.v.m.), am Script beteiligt war Nick Antosca (Creator von "Channel Zero", Schreiber bei "Hannibal" u.a.), Regie führte Scott Cooper, der schon einmal eine "Akte X"-Episode inszeniert hat. An "Akte X" fühlte ich mich wegen des Settings und der Themen mehrmals erinnert (Oregon! Wälder! Monster!), und man muss im Nachhinein staunen, dass es die Kreatur, um die es hier geht, nie in den "X-Files" aufgetaucht ist (wohl aber bei "Supernatural"). Der Grusler fährt somit etliche Pluspunkte ein, bleibt aber letztlich nicht lange im Gedächtnis haften.

Die Abenteuer von Brigsby Bär
Diese Tragikomödie mit meinem derzeitigen Lieblings-SNL-Ensemblemitglied Kyle Mooney in der Hauptrolle (der auch am Buch mitgewirkt hat) ist bereits 2017 auf dem Sundance-Festival aufgeführt worden und bis heute ungerechtfertigterweise wenigen bekannt. Die Prämisse, die im Vorfeld nicht zu kennen den Filmgenuss steigert, weist Parallelen zu "Unbreakable Kimmy Schmidt" auf, hat aber gänzlich andere Entwicklungen als jene zur Folge. Ein Feel-good-Movie mit der richtigen Balance zwischen Melancholie und Lebensbejahung plus ausreichend Albernheit und awkwardness, zudem überraschend geadelt mit Mark Hamill und Claire Danes in Nebenrollen.

The God Committee
Erst letztes Jahr erschienen und ebenfalls – wohl coronabedingt – ziemlich weit unter dem Aufmerksamkeitsradar geflogen ist dieses Drama mit Kelsey Grammer und Janeane Garofalo (zwei Namen, deren Schreibung ich jedes Mal nachschlagen muss). Dabei hätte das ernste Sujet, mit dem es sich auseinandersetzt, durchaus mehr Beachtung verdient, i.e.: Organspende und die moralischen Fragen, denen sich Krankenhäuser zu stellen haben, wenn es um die Priorisierungsreihenfolge von Transplantats-Erwartenden geht. Den Kern der rund 100 Minuten machen denn auch die Diskussionen des Transplantations-Komitees aus. Ein Herz ist zu vergeben, drei potentielle Kandidaten stehen auf der Liste, die Uhr tickt, immer wieder kommen neue Pro-und-Kontra-Argumente und alles veränderne Aspekte auf den Tisch. Als ich las, dass dem Film ein Theaterstück zu Grunde liegt, dachte ich: 'Aha, ja, das macht Sinn!' Auf der Bühne hätte ich das Kammerspiel viel lieber gesehen, die cinematographischen Ausschmückungen wie dramatisierende Kamerafahrten hätte es gar nicht gebraucht.

I Am Chris Farley
Nachdem ich neulich "The Chris Farley Show", die hauptsächlich aus Zeitzeugenaussagen zusammengefügte Biographie von 2008, gelesen habe, bin ich nun fast so etwas wie ein Chris-Farley-Experte. Viel hat der Dokumentarfilm von 2015 nicht hinzuzufügen, aber immerhin ergänzen etliche Film-, Sketch- und Privatvideoschnipsel die O-Ton-Parade, in der zahlreiche Weggefährten, denen man im Buch begegnet ist, zu Wort kommen, wobei einige mehr im Spotlight stehen (Brian Stack, hurra!), während andere auf einen Auftritt verzichtet haben, darunter Farleys Second-City-Kommilitonen Chris Rock und Tim Meadows, die damals, in der 16. Staffel (1990/91), mit ihm zusammen bei "Saturday Night Live" angefangen haben.
Das Bild, das ich von dem jung verstorbenen Schauspieler hatte, wurde durch den Film im Wesentlichen gefestigt: Chris Farley war nicht in allen komödiantischen Fächern, wohl aber in den körperbetonten meisterhaft und ein Timing-Genie. Wer mit ihm persönlich zu tun hatte, schwor, dass es keinen lustigeren Menschen unter der Sonne gab, wusste aber um Farleys Selbstzweifel, seine ständige Angst, ein one trick pony zu sein ("Fatty falls down, everybody laughs"), kannte seine zarte Seite und seinen jahrelangen, letzten Endes tödlichen Kampf gegen die Verlockungen von Alkohol und harten Drogen.

Lamb (OT: Dýrið)
... war, glaube ich, "mein" erster isländischer Film. Ich habe ihn im Original mit Untertiteln gesehen und staunte, dass Noomi Rapace Isländisch spricht. Hat sie die Sprache extra für diese Hauptrolle gelernt, und wenn ja, wie gut ist die Schwedin darin?, fragte ich mich. Stellt sich heraus: Die Schauspielerin hat Teile ihrer Kindheit in Island verbracht und spricht daher fließend Isländisch (sowie übrigens auch Dänisch und Norwegisch).
Das Ende hat mir ausgesprochen gut gefallen, bis dahin muss man allerdings einige Längen durchstehen. "Lamb" ist, in einem Wort, weird, und diesen Anglizismus gebrauche ich nicht nur mangels eines trefferenderen deutschen Ausdrucks, sondern auch im Mark-Fisher'schen Sinne. Er ist aber nicht weird um der weirdness willen, sondern dreht sich im Grunde um zentrale Probleme des Menschseins wie Verdrängung, Ausweglosigkeit, Unumkehrbarkeit von Entscheidungen. Das übernatürliche Element ist nur Trägersubstanz – und wird die meiste Zeit weder erklärt noch hinterfragt. Beim Schauen kam mir der ungarische Grotesken-Regisseur Béla Tarr in den Sinn, und als ich dessen Namen tatsächlich im Abspann unter dem Titel des Ausführenden Produzenten las, rief ich: "Ha!"
Fazit: Eindrucksvoll, aber hätte auch mit 20 Minuten weniger Laufzeit funktioniert.

Stillwater
Noch so ein potentieller Blockbuster, der in der Pandemie untergegangen ist (Premiere: 2021 in Cannes). Matt Damon gibt einen burschikosen Blue-Collar-Daddy, dessen Tochter in Marseille eine Gefängnisstrafe wegen Mordes absitzt. Zu Recht? Oder unschuldig? Der Vater, der schließich in Südfrankreich Wurzeln schlägt und dabei auch die weniger hübschen Facetten dieser Region kennenlernt, versucht jedenfalls, die von Abigail Breslin verkörperte amerikanische Studentin zu exkulpieren und heimzuholen. Das Drama lehnt sich mehr oder weniger offensichtlich an den Fall Amanda Knox an und hinterlässt m.M.n. einen unangenehmen Nachgeschmack.

Der Unsichtbare
Meine Erwartungen weit übertroffen hat diese Neu-Interpretation eines klassischen Universal-Monsters. Wir erinnern uns: Mit der "Mumie", die als Flop endete, hoffte man in den 2010er-Jahren das "Dark Universe" zu etablieren, und "The Invisible Man" war ein gerettetes Überbleibsel dieses Franchise-Versuchs. Dass die Modernisierung der ollen Wells-Geschichte gelungen ist, verdankt sich zum einen der Regie Leigh Whannels ("Saw", "Insidious"), zum anderen dem herausragenden Spiel Elisabeth Moss', die ich bis dahin zugegebenermaßen nie als Qualitäts-Garantin auf dem Schirm hatte.

Der Moment der Wahrheit (OT: Truth)
Elisabeth Moss ist auch Teil des Wahnsinns-Casts in diesem Polit-Thriller von 2015. Cate Blanchett und Robert Redford sind dabei die Hauptakteure in der Story der sog. Killian-Dokumente, die sich um George W. Bushs Wehrdienst-Herumdrückerei und die CBS-Sendung "60 Minutes" mit Dan Rather (Redford) drehten. Ich war mit diesem Skandal kaum vertraut, weil ich mich zu dieser Zeit schon nicht mehr so sehr für US-Politik interessierte wie noch zehn Jahre zuvor, umso dankbarer war ich dafür, dass man der Handlung prima folgen konnte – besser noch als denen von "Die Verlegerin", welchen ich vom Unterhaltungsfaktor mit "Truth" auf ein Niveau stellen würde.

Dr. Who and the Daleks
Zum Schluss etwas höchst Obskures (nur "Whovians" mögen weiterlesen): eine nicht-kanonische "Doctor Who"-Verfilmung aus dem Jahr 1965 mit Peter Cushing, der die Rolle des Doktors ein Jahr später in einem weiteren Film übernommen hat. Nachdem die 1963 angelaufene BBC-Serie sich recht zufriedenstellend entwickelt hatte, wollte man die Figuren einem größeren Publikum in Farbe und im Breitbildformat zeigen, besetzte sie aber mit anderen Schauspielerinnen und Schauspielern. Wäre ich Teil des TV-Ensembles gewesen, hätte ich mich ganz schön übergangen und beleidigt gefühlt! Zumal Cushings Interpretation des titelgebenden Zeitreisenden gegen William Hartnells Ersten Doktor extrem abstinkt: Er ist halt eine durch und durch sanfte Großvaterfigur ohne das mysteriöse Fluidum und die gelegentlich aufscheinende grumpi- und snarkiness, die dem Außerirdischen bereits in seiner ersten Inkarnation Ecken und Kanten verleihen. (By the way: Der Doktor, der hier tatsächlich mit "Doctor Who" angesprochen wird, scheint gar kein Alien, sondern lediglich ein irdischer Hobby-Erfinder im fortgeschrittenen Alter zu sein.) Barbara, die in diesem Film Susans Schwester statt deren Lehrerin ist, bleibt großteils blass, und Ian (hier: Barbaras Freund) verkommt zum bloßen comic relief. Dabei waren es in den ersten Classic-Staffeln doch meistens die beiden Lehrkräfte, die die Handlung vorangetrieben und so manche brenzlige Situation entschärft haben. Gelungen ist dagegen die Charakterisierung von Susan: eine tolle Identifikationsfigur für Kinder, furchtlos, neugierig, belesen und (wie Barbara auch) an Wissenschaft interessiert, mithin für diese Ära ganz schön progressiv!
Wirkungsvoll ist auch die Optik der Daleks, ihre Stimmen und ihre Bedrohlichkeit sowieso. Ich finde, hier sind sie sogar noch perfider als in manchen späteren Geschichten, folgen sie doch nicht nur inhärenter, arbiträrer Bösartigkeit, sondern sie erweisen sich als kalkulierend und trickreich, täuschen Kooperationsbereitschaft vor, um ihr expansionistisches Ziel zu erreichen. Die in der Serie eingeführten Thals kommen auch vor. Die Tardis wiederum (die hier immer "Tardis" ohne Artikel genannt wird) hat zwar das gewohnte Außendesign, ihr Interieur macht aber den Eindruck eines besseren Geräteschuppens.
Insgesamt wurden mir kurzweilige 80 Minuten geboten. Das exaltierte Gehabe des Cushing-Doktors sowie ein paar allzu krampfhafte Humor-Einschübe (darunter einen Türöffnungs-Gag, der mir wie eine Vorwegnahme des viralen "Darth Vader being a jerk"-Cuts vorkam) muss man halt ausblenden.

Freitag, 25. März 2022

Hier ist ein Mensch

(Das ist eine Fußnote zum letzten Beitrag, die mir dort nicht recht reinzupassen schien.)

In dem vorgestellten Buch "Vom Frühling und von der Einsamkeit" gibt es einen Fall aus dem Jahr 1928, der mich an einen älteren Beitrag von mir erinnert hat, in welchem es um das Wort "Mensch" als Beleidigung ging. Ausgangspunkt des Geschehens: ein Wochenmarkt. Der Übeltäter: Gemüsehändler Bösche aus Caputh. Lassen wir Gerichtsreporterin Tergit zu Wort kommen: "Unser Gemüsehändler hat einen wirklichen Hund, ein Dackeltier ohne Leine, zwischen die Kohlstände laufen lassen. Das ist verboten." Auftritt Polizei. "Der Grüne war auf ihn zugekommen und hatte seinen Ausweis verlangt. Bösche und der Grüne kannten sich sehr gut. Bösche sah es nicht ein. 'Mensch', sagte er, 'ich bin doch Bösche, der Gemüsemann, steht doch groß am Stand.' Aber der Grüne – das ist der Staat. Hat der Staat nötig, sich mit 'Mensch' anreden zu lassen?" Der Schutzmann fand: nein, und wollte den Krämer mit auf die Wache nehmen. Der weigerte sich, weswegen er wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt wurde. Nicht jedoch wegen Beleidigung; das Ehrabschneidungspotential der Vokabel Mensch blieb somit bedauerlicherweise unverhandelt. Bedauerlich auch der Ausgang des Prozesses, und die Autorin lässt einmal mehr durchschimmern, was sie davon hält: "Der junge Amtsrichter, verpflichtet, den Staat zu schützen, meint im Urteil: 'Berechtigt zur Festnahme sind die Beamten wohl gewesen, ob es nötig war, steht dahin.' Und er verurteilt Bösche zu 60 Mark Geldstrafe. Sechzig Mark Geldstrafe sind viel Geld, wenn man 25 Mark in der Woche verdient und sieben Mäuler zu stopfen hat. Bösche, bisher unbestraft, will sich nicht dabei beruhigen, und er hat recht."

Mittwoch, 23. März 2022

Das große Ganze im Gerichtssaal

Am 11.8.1924 übte ein Schutzpolizist in Berlin-Mitte seinen Dienst alkoholisiert aus und pöbelte bei seinem Rundgang zuerst zwei unbescholtene Frauen an, die gerade ihr Zigarrengeschäft abschlossen, später zwei Burschen. Einem von ihnen rief er zu: "Sie kenne ich schon lange!" Der derart provozierte junge Mann "wollte aufbrausen, wurde aber beruhigt und ging weiter. Nach ein paar Minuten kam es dennoch zwischen ihm und dem Polizisten zu einer derben Prügelei."

Hätte sich dieser Vorfall knapp 100 Jahre später ereignet, kann man sich ausmalen, was passiert wäre: Ein Verfahren gegen den Polizisten wäre eingestellt worden (wenn es überhaupt eingeleitet worden wäre), im Gegenzug hätte der Zeuge mit einer Anzeige wegen Widerstands oder tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte rechnen müssen.

Wie aber ging es damals weiter? Der Schutzmann wurde angeklagt und – trotz Deckung durch seinen Kollegen, der ihn am Tattag begleitet hatte – verurteilt: "Das Gericht ging denn auch weit über den Antrag des Staatsanwalts hinaus. [...] Dem Angeklagten [...] sei seine Bezechtheit nur strafschärfend anzurechnen. Die Beamtenschaft müsse vom Vertrauen des Volkes getragen sein, und Beamte, die dieses Vertrauen mißbrauchen, müssen scharf angepackt werden: drei Monate Gefängnis." Und jetzt kommt's! "Aber der Angeklagte habe auch die Äußerung getan: 'Sie kenne ich schon lange!' Eine solche Redensart sei im Munde eines Schutzmannes eine Beleidigung, denn der Angeklagte habe damit ausgedrückt, daß der Zeuge schon mehrfach mit der Polizei in Konflikt geraten sei. Dies aber sei nicht der Fall, und so habe auch wegen Beleidigung eine Bestrafung erfolgen müssen: 50 Mark Geldstrafe."

So kann man es nachlesen in den gesammelten Prozessberichten von Paul "Sling" Schlesinger (Der Mensch, der schießt. Berichte aus dem Gerichtssaal, Lilienfeld Verlag 2013). Die Gerichtsreportage ist nicht nur als literarische Gattung wertvoll, sondern auch und vor allem als Zeitdokument kaum zu überschätzen. Dass in den Zwanzigern beileibe nicht alles golden war, kann man aus Schlesingers scharfen Beobachtungen ebenso mitnehmen wie die Erkenntnis, dass in der jungen Demokratie doch einiges möglich war, was man sich im 21. Jahrhundert kaum vorstellen kann. 

Ein vergleichbares Werk lese ich gerade: Gabriele Tergits Vom Frühling und von der Einsamkeit (Schöffling & Co. 2021). Die darin versammelten Reportagen aus den Gerichten entstanden ebenfalls im Berlin der Weimarer Zeit und sind m.M.n. noch aussagekräftiger hinsichtlich des Zustands der Republik, der ja allzu oft mit dem heutigen parallelisiert wird. Ein Beispiel aus dem Jahre 1926. Auf der Anklagebank sitzt ein "schmaler, dünnlippiger, grauhaariger Herr", der eine Pistole ohne gültigen Waffenschein besessen haben soll. Die Waffe habe er noch aus seiner Zeit bei der Wehrmacht, für deren Angehörige die entsprechende Vorschrift von 1919 nicht gelte. "Richter: Doch. Sie erlangte durch Veröffentlichung im 'Reichsgesetzblatt' Gesetzeskraft. - Angeklagter: Das beweist nichts. Die Nationalversammlung hatte recht de facto, aber nicht de jure. [...] Ich fühle mich nicht gebunden an Verordnungen der Herren Volksbeauftragten, der Herren Novemberlinge [...]" Na, erinnert das nicht frappant an jene selbsternannten "Reichsbürger", die heute ständig die Justiz nerven?

Was mir ins Auge springt, ist das häufige Vorkommen von Kampfverbänden, guerillaesken Milizen, Umstürzlern und sonstigen bewaffneten oder unbewaffneten politischen Organisationen. Ich bin erst bei einem Drittel des Tergit-Buches angelangt, und bisher wurden schon erwähnt:
- die Bismarck-Bündler: rechtsnationaler, paramilitärischer Verband
- "Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten", größter Kampfbund der "Nationalen Opposition"
- das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund aktiver Demokraten, 1924 von den drei Parteien der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) gegründeter Wehrverband zum Schutz der Republik
- die Schwarze Reichswehr: Paramilitärische Formationen, die unter Bruch des Versailler Friedensvertrages von der Reichswehr unterhalten oder gefördert wurden
- die Organisation Consul: 1920 gegründet, nationalistischer und antisemitischer Kampfbund mit dem Ziel, eine Militärdiktatur zu errichten
- der Spartakusbund 
(op.cit., Anhang "Anmerkungen").

Und das ist dann ein augenfälliger Unterschied zu den 2020er Jahren: Bei allen alarmierenden Entwicklungen gehören Straßenkämpfe widerstreitender Gruppierungen nicht zum bundesdeutschen Alltag.

Montag, 21. März 2022

TschüssiVZ!

Das soziale Netzwerk StudiVZ ist endgültig Geschichte, bis zum Monatsschluss werden alle verbliebenen Userkonten gelöscht. "In E-Mails an registrierte Nutzerinnen und Nutzer der einstigen Facebook-Konkurrenten schreibt die Betreiberfirma Poolworks, die Netzwerke seien nach mehr als 16 beziehungsweise 14 Jahren 'technisch so veraltet, dass ein Weiterbetrieb keinen Sinn macht'", meldet "Spiegel online". Ich habe so eine Mail nicht erhalten, aber ich könnte auch nicht einmal sagen, ob mein Account noch besteht oder wann ich mich zum letzten Mal eingeloggt habe, denn scheintot ist StudiVZ nun schon seit mindestens zehn Jahren. 

Von 2006 bis etwa 2010 war ich dort allerdings sehr aktiv und hatte viel Freude daran, mehr als später mit Facebook, wo ich heute praktisch auch nichts mehr mache (kürzlich habe ich sogar die Facebook-App vom Handy geworfen). Hach, gerade werde ich ein wenig nostalgisch. Eine Suche in meinem Blog-Archiv offenbart, dass StudiVZ bisher immerhin drei Mal auf Kybersetzung erwähnt wurde, noch öfter auf dem längst gelöschten Vorgänger. Hier zwei aufschlussreiche Beiträge aus der Hoch-Zeit der Online-Community:

10.05.2007
Zeige mir deine Gruppen und ich sage dir, wer du bist

Das StudiVZ ist schon eine feine Sache bzw. ein nutzloses Spionage-Netzwerk. Man lernt dabei Menschen kennen, die man nienienie kennen lernen wollen würde. Eine Studentin aus Innsbruck sah sich neulich meine Seite an, also warf ich auch einen Blick auf ihr Profil. Anhand ihrer Zugehörigkeit zu den Gruppen "Ja zur Todesstrafe", "Mir stinken die Linken!", "Ich bin kein Klugscheißer, ich weiß es wirklich besser!", "Nur weil ich gut aussehe werde ich für arrogant gehalten", "Ich habe Strache die 3 Bier gebracht!", "Nicht alle Männer sind Idioten. Einige sind Vollidioten", "Wenn ich könnte, würde ich mit dem Auto zum Klo fahren" und "Tu was für DEIN IMAGE - lass dich MIT MIR sehen!" weiß ich, dass ich mit diesem Subjekt nicht mal eine Minute im selben Raum verbringen mag - ein Urteil, das zu fällen im Real Life viel länger dauern würde! Wenn man wie genannter Unmensch Mitglied der Gruppe "Alle meine Gruppen werfen genau das richtige Licht auf mich" ist, dann ist das zumindest ein Zeichen von Einsicht.

09.12.2008
Eine unbequeme Wahrheit

Tatsache ist, dass Leute, die in StudiVZ-Gruppen mit der Kernaussage "Ich bin intelligent" oder "Ich hasse dumme Menschen" Mitglied sind, selber nie als besonders klug auffallen. Woran liegt das? Wahrscheinlich wie so oft am Umfeld. Die Leute merken, dass sie irgendwie schlauer sind als ihre peers, und fühlen sich deshalb überlegen. Nüchtern betrachtet sind ihre Freunde und Bekannten einfach nur noch beschränkter. Die StudiVZ-Leute sind solche, die zwar wissen, dass der "Walfisch" kein Fisch ist, aber lassen es unkommentiert im Raum stehen, wenn jemand behauptet, der Hirsch sei der Mann vom Reh. Jetzt wird man einwenden: "Jaaa, der Walfisch ist zwar kein Fisch, sondern ein Sternbild, aber das Schnabeltier ist auch kein Fisch und kein Sternbild." Aber warum sollte das Schnabeltier ein Fisch sein? Das sind doch keine Flossen, die es da hat, sondern Plattfüße, wie man ja schon an dem englischen Wort platypus sieht. Ein seltsames Tier übrigens. Legt es nicht sogar Eier?

Na ja, das lasse ich mal so stehen. In meinen Zwanzigern neigte ich, wie es typisch für dieses Alter ist, dazu, auf gewisse Mitmenschen hinabzusehen. 

Neue Bekannt- oder gar Freundschaften habe ich über StudiVZ nie geschlossen, meine Freundesliste bestand ausschließlich aus Leuten, die ich aus dem echten Leben kannte. Auch bei Facebook habe ich es so gehandhabt: Nur mit Personen verbinden, die mir schon einmal begegnet sind! Interaktionen mit Fremden gab es trotzdem hin und wieder, vor allem über die erwähnten "Gruppen". Gruppen waren das Beste und waren tatsächlich das geeignetste Mittel der Selbstdarstellung, ein Ersatz für verbale Charakterbeschreibung. In mehreren Gruppen war ich sogar Moderator, darunter in einer Anti-Burschenschaftler-Gruppe (was wohl das Politischste war, was ich während meiner gesamten Unizeit gemacht habe), und mindestens zwei habe ich selbst gegründet. Noch aufregender als in Forendiskussionen Antworten oder Erwähnungen zu bekommen war es, wenn man "Besucher" auf der eigenen Profilseite hatte. Das ist es, was ich in dem Eintrag von 2007 mit "... sah sich neulich meine Seite an" meinte. Wie gesagt, tiefergehende Kontakte haben sich durch StudiVZ nie ergeben, aber ich bin dankbar für all die Ablenkung während meines Studiums und für die Möglichkeit, mit meinen mehr oder weniger engen Freunden und Freundinnen rund um die Uhr zu agieren. RIP VZ.

Sonntag, 20. März 2022

Freitag, 18. März 2022

Fragen, die ich mir selbst stelle

Dies ist eigentlich eine Follow-up-Frage zu einer nicht wirklich beantworteten Frage aus meinem alten Blog. Sie kam zu einer Zeit auf, als ich meinen festen Wohnsitz noch in Dresden hatte. Aber lest selbst:
15.11.2010
Fragen, die ich mir selbst stelle

Ich schäme mich ja fast schon ein bisschen für diese Frage, aber: Was genau machen diese "Dispatcher"-Autos, die gelegentlich auf unseren Straßen zu sehen sind? Ein Freund von mir hat einmal behauptet, der Dispatcher sei ein Computerdienst, der fehlerhaft installierte Patches wieder rückgängig macht. Aber das war wohl eher eine scherzhafte Antwort. Allerdings ist es auch eine sehr schöne Antwort. Die Wahrheit ist bestimmt langweilig, der Dispatcher wird irgendein Erstbegutachter von Verkehrsstörungen oder Havarien sein. Erwähnenswert ist zumindest noch, dass es das Wort Dispatcher auch schon in der DDR gab, wie ich einem Buch entnommen habe. Dies war eines der wenigen englischen Fremdwörter im DDR-Wortschatz. Weitere Anglizismen waren Choke (allerdings fälschlich "Chock" gesprochen), irgendein Trabiteil für den Kaltstart, und natürlich der Broiler, den man im Rest Deutschlands auch als Hendl oder Gockel kennt (Broilerkeule = Gockelhaxen ^^).
Update: Ich habe jetzt doch mal in die Wikipedia geschaut, und im "Dispatcher"-Artikel der englischen Version gibt es sogar ein Foto eines solchen Wagens aus Dresden!
Jetzt musste ich aus heiterem Himmel wieder an Dispatcher denken. Was diese Einsatzfahrzeuge tun/taten, ist mir mittlerweile im Groben klar, aber meine aktualisierte Frage wäre, ob sie immer noch existieren. Wenn ich das nächste Mal im Osten der Republik bin, werde ich die Augen besonders weit offen halten. 

Als sprachhistorischer Fakt sei noch ergänzt, dass das Wort nicht direkt aus dem Englischen, sondern über das Russische (Диспетчер) ins DDR-Lexikon gelangt ist.

Mittwoch, 16. März 2022

Filmtitel XXIV

Sixteen Candles → Das darf man nur als Erwachsener
A Perfect Enemy → Kosmetik des Bösen
Ottolenghi and the Cakes of Versailles → Ottolenghi und die Versuchungen von Versailles
Monster Family → Happy Family
Monster Family 2 → Happy Family 2
Effacer l'historique → Online für Anfänger
Meet the Applegates → Applejuice
Les Olympiades → Wo in Paris die Sonne aufgeht
C'mon C'mon → Come on Come on
The Good Soldier → Silence Breakers
Soldier Blue → Das Wiegenlied vom Totschlag
The Pickle → Stage Fright – Eine Gurke erobert Hollywood
This Property is Condemned → Dieses Mädchen ist für alle
Modern Problems → Schatz, du strahlst ja so!
Dragnet → Schlappe Bullen beißen nicht
The Hating Game → Küss mich, Mistkerl!
Nine to Five → Warum eigentlich … bringen wir den Chef nicht um?
Breach → Anti-Life
Clarice → Clarice Starling – Das Erwachen der Lämmer [Serie]
Whiffs → Cash – Die unaufhaltsame Karriere des Gefreiten Arsch
I onde dager* → The Trip – Ein mörderisches Wochenende
Smagen af sult** → Dinner for Two 

* norwegisch für "In schlechten Tagen" (i gode og onde dager = "in guten wie in schlechten Zeiten")
** dänisch für "Der Geschmack von Hunger"


Montag, 14. März 2022

Volks(lied)zählung

Ich weiß nicht mehr, wie genau, aber im Zuge meiner Recherchen zum letzten Beitrag über novelty songs & Co. bin ich auf eine so sinnvolle wie inspirierende Liste gestoßen: den Roud Folk Song Index. Dieser von dem 1949 geborenen britischen Bibliothekar Steve Roud angelegte Katalog listet 25.000 Folksongs, Traditionals, Wiegenlieder und sonstige mündlich überlieferte Volksweisen aus dem englischen Sprachraum auf. In (umfangreichen) Auszügen ist der Index auf Wikipedia einsehbar. Wenn einem mal langweilig ist, kann man sich ein beliebiges Lied herausgreifen und auf YouTube danach suchen: In der Regel gibt es von jedem Titel mehrere Interpretationen zum Anhören.

Perfekt durchdacht wie das Dewey-Dezimalsystem o.ä. ist der Index nicht. Die Zuordnung der Roud-Nummern erfolgt mehr oder weniger willkürlich, als grobe Regel kann laut Wikipedia lediglich gelten, dass in den niedrigzahligeren Bereichen die bekanntesten Evergreens auftauchen, während obskurere Schlager recht hohe Indexnummern haben. Aber was heißt für unsereins schon "bekannt"? Ich musste ziemlich weit scrollen, um auf ein mir vertrautes Lied zu stoßen. Vielleicht sollte man eh erst einmal die Untiefen des deutschen Volksliedschatzes vollständig ausloten. Ich kann mich, wie mehrfach gezeigt, nicht über mangelnde schulische Vermittlung traditionellen Liedgutes diverser Kulturkreise beschweren, doch wer weiß, welch herrliche Stimmungshits und Balladen mir bisher verborgen geblieben sind? Ein Analogon des Roud Index für den deutschsprachigen Raum wäre mehr als nützlich. Als ich vor einiger Zeit das Marbacher Literaturarchiv besuchte, lag dort ein alter Wälzer herum, in dem Unmengen von Volksliedern mit Text und Noten gesammelt waren. Leider vergaß ich seinen Titel und konnte ihn auch später in einschlägigen Online-Antiquariaten nicht mehr aufstöbern.* Nun erfahre ich jedoch zu meiner Freude von der Essen Folk Song Collection, welche neben u.a. fast 2000 Liedern aus China mehr als 5000 deutsche Volkslieder beinhaltet. Es handelt sich um eine durchsuchbare Datenbank, bei der allerdings die Option einer alphabetischen oder sonstwie geordneten Auflistung aller Einträge leider fehlt, auch die vollständigen Lyrics sind nicht eingetragen, wohl aber sind die Melodien als Midi-Dateien herunterladbar. Für Hinweise auf den Marbacher Trumm wäre ich nach wie vor dankbar.

* Immerhin ein etwas abseitiges Kleinod ergatterte ich bei meiner Suche: ein goldbeschnittenes Bändchen von 1879 mit Volksliedern und Gedichten des "weltvergeßnen Dichters" (so der Herausgeber) Gottlieb Jakob Kuhn aus der Schweiz, das neben 36 Texten auch ein lehrreiches schweizerdeutsch-hochdeutsches Glossar enthält.

Samstag, 12. März 2022

Mittwoch, 9. März 2022

Durchs musikhistorische Kaninchenloch

Wird dies ein weiterer Beitrag, der mit "Neulich habe ich in einem Podcast gehört ..." / "Gerade lese ich in einem Buch ..." o.ä. beginnt? Pah, nein! Dieser Beitrag beginnt mit "Gerade habe ich" ... aber lest selbst:

Gerade habe ich beim gedankenverlorenen Schreddern (darüber demnächst mehr) "Goodnight, Ladies" vor mir her gesungen, da fiel mir ein, dass ich dieses Lied 1.) aus der Schule kenne und es deswegen meiner fortlaufenden Liste von Liedern, die wir in der Schule gesungen haben, hinzuzufügen ist, und es 2.) dieselbe Melodie hat wie der deutsche Gaudi-Hit "Rucki Zucki"! Sodann habe ich den Wikipedia-Artikel zu "Goodnight, Ladies" aufgerufen und erfahren, dass der Song auf ein Volkslied namens "Farewell, Ladies" von 1847 zurückgeht, in seiner bekannten Form aber Edwin Pearce Christy zugeschrieben wird und 1867 veröffentlicht wurde. Und jetzt wird's unangenehm: Christy war der Gründer der Blackface-Gruppe "Christy's Minstrels" und hat das Lied eigens für deren Minstrel-Shows adaptiert. Da darf man durchaus fragen, ob das deutsche Cover "Rucki Zucki" unbedingt von jemandem namens ... Ach, egal.

Im 20. Jahrhundert gründeten sich dann jedenfalls "The New Christy Minstrels", die nach lediglich einer kurzen Unterbrechung in den Siebzigern bis heute aktiv sind und sich zwar namentlich explizit auf die Original-Truppe berufen, gottlob aber nicht mit Schuhcreme im Gesicht auftreten. Viele ihrer populären Singles können nicht anders denn als schmissig bezeichnet werden, beispielsweise der "Song of the Pious Itinerant (Hallelujah, I'm a Bum)", den man aus der Serie "The Leftovers" kennen könnte. Als vor zwei Jahren die amerikanische Country-Legende Kenny Rogers verstarb, sagte ich "Ach, guck an!", nachdem ich gelesen hatte, dass Rogers ein Mitglied der New Christy Minstrels gewesen war.

Ebenfalls noch aktiv sein könnte der australische Liedermacher Rolf Harris (* 1930). Warum "könnte", darauf gehe ich gleich ein. Ich ließ kürzlich den Tag ausklingen, indem ich mich durch die Diskographie des Sängers und Kinderfernsehmoderators lauschte, der mit dem "wobble board" ein eigenes charakteristisches Instrument erfunden hat und dessen wirklich charmanter Ohrwurm "Tie Me Kangaroo Down, Sport" lange als heimliche Hymne Australiens galt. Warum also kannte ich diesen berühmten Mann nicht? Auf Wikipedia schlug ich es am nächsten Tag nach: "Im März 2013 war Harris einer von 12 Beschuldigten, die im Rahmen der 'Operation Yewtree' festgenommen wurden. Ihnen wurde bereits länger zurückliegender sexueller Missbrauch vorgeworfen, der allerdings nichts mit den Ermittlungen im Fall des ehemaligen BBC-Moderators Jimmy Savile zu tun haben sollte." Jesus Christ. Der letzte Nebensatz macht es eigentlich nur noch schlimmer, denn wenn extra erwähnt werden muss, dass du nichts mit dem größten Monster der britischen Mediengeschichte zu tun hattest, musst du wirklich Dreck am Stecken haben. ("Operation Yewtree" ist mir übrigens wegen der BBC-Serie "Line of Duty" ein Begriff; dass der ansonsten fiktive Stoff sich hier an abstoßende real-life events anlehnt, fand ich – und nicht nur ich – damals etwas verstörend.) Nach Anklage, Schuldspruch und Haft (mit vorzeitiger Entlassung) ist Harris' Karriere heute am Ende, seine Ehrentitel wurden ihm längst aberkannt. Ich bin gelegentlich bereit, zwischen Kunst und Künstler zu trennen, aber es gibt Grenzen.

Wie war ich überhaupt auf Rolf Harris gekommen? Nun, ich gestehe (wie vorhersehbar ich doch bin!): durch einen Podcast. Es ging um gedächtnisstimulierende Endloslieder nach dem "Ich packe meinen Koffer"-Prinzip à la "Wenn der Topf aber nun ein Loch hat". Als Beispiel wurde Harris' leider abermals sehr mitreißende Sing-along-Nummer "The Court of King Caractacus" genannt. So. Nachdem ich den Australier dann für mich gecancelt hatte, brauchte ich als palate cleanser vertraute novelty songs ohne bedenklichen Background. Ei, das waren jetzt zugegebenermaßen ganz schön viele Anglizismen, aber manchmal scheint mir die englische Sprache halt ausdrucksstärker, treffender und verspielter zu sein als die deutsche. Beweisstück A: das Œuvre des inzwischen 93jährigen Tom Lehrer. Wissenswerter Einschub für Deutschsprachige: Georg Kreislers "Tauben vergiften im Park" ist, bei gleichwertiger Existenzberechtigung, eine Coverversion von Tom Lehrers "Poisoning Pigeons in the Park". Als ich in meiner Hör-Session bei Lehrers Jahrhundertstück, dem "Elements Song", angelangt war, musste ich mir zwangsläufig – apropos Coverversion – im Anschluss den nicht minder komischen "Major-General's Song" aus Gilbert und Sullivans Oper "The Pirates of Penzance" zu Gemüte führen. Und damit schließt sich der Kreis, zumindest für heute. Denn wer findet in dem zungenbrechenden Patter song von 1879 Erwähnung? Genau: Caractacus.

Montag, 7. März 2022

Humorperlen aus dem Abreißkalender (91)


Wir scheinen jetzt offiziell in der Phase angekommen zu sein, in der jeder Witz eine Kombination aus Bild und Text ist – was früher noch eine Rarität war.

Samstag, 5. März 2022

Schok'schwerenot

Als ich neulich mein Frühstücksmüsli in die Müslischüssel schütte, unterziehe ich die Packungsbeschriftung einem genaueren Blick und halte inne. Wie heißt diese Sorte?


"Pistachio" – klar, das ist das englische Wort für Pistazie, aber wieso "Choco" als Verkürzung von chocolate, die im Englischen weder in geschriebener noch in gesprochener Form existiert? Ich teile das Foto bei Twitter und schreibe: "Welche Sprache soll das sein? Ernstgemeinte Frage". Weil ich keine hilfreichen Antworten erhalte, suche ich in der englischsprachigen Wikipedia nach "choco" und stoße auf die Information, dass choco (in dieser Transliteration) in Japan und Korea als Kurzwort für "Schokolade" gebräuchlich ist. Japanisch oder koreanisch? Das kann sicher nicht die Intention von Kellogg's gewesen sein. 
Mich stört diese Schreibweise nach wie vor. Mit "weiß doch eh jeder, was gemeint ist" kann und darf man sich m.M.n. nicht herausreden. Das Müsli schmeckt aber ganz gut.

Donnerstag, 3. März 2022

Serientagebuch 02/22

01.02. The Expanse 4.05
The Expanse 4.06
02.02. This Is Us 6.03
The Book of Boba Fett 1.03
04.02. Ordinary Joe 1.04
06.02. Master of None 2.07
Twelve Monkeys 1.06
08.02. The Book of Boba Fett 1.04
09.02. The Expanse 4.07
10.02. Ordinary Joe 1.05
The Book of Boba Fett 1.05
12.02. Twelve Monkeys 1.07
The Book of Boba Fett 1.06
The Expanse 4.08
13.02. Person of Interest 2.18
The Book of Boba Fett 1.07
14.02. This Is Us 6.04
15.02. The Expanse 4.09
17.02. South Park 25.01
South Park 25.02
The Expanse 4.10
18.02. Ordinary Joe 1.06
19.02. South Park 25.03
20.02. This Is Us 6.05
21.02. Master of None 2.08
Master of None 2.09
Master of None 2.10
22.02. Bodyguard 1.01
Twelve Monkeys 1.08
23.02. Bodyguard 1.02
Ordinary Joe 1.07
24.02. Person of Interest 2.19
Bodyguard 1.03
Twelve Monkeys 1.09
26.02. The Marvelous Mrs. Maisel 4.01
The Marvelous Mrs. Maisel 4.02
28.02. This Is Us 6.06

Was ich letzten Monat nur vermuten konnte, hat sich bestätigt: Die vierte Staffel von The Expanse konnte das hohe Niveau von Season 3 nicht halten – was keinesfalls bedeutet, dass die Serie merklich schlechter geworden ist. Der Exoplanet als ein großer Schauplatz war eine erfrischende neue Location und hat mich von seiner Ästhetik her an den Film "Prometheus" erinnert, während mich der in Staffel 3 begonnene Miller-Plot an die 2. Staffel von "Westworld" erinnert hat (Stichwort Anthony Hopkins). Insgesamt setzte sich der Trend zum mehr Esoterischen, Fantastischen hin fort, was eine weitere Parallele zu "Game of Thrones" ist, wo man sich über die Staffeln hinweg immer mehr zur High Fantasy bewegte, nachdem zunächst ein nahezu magie- und mysteryfreies düsteres Mittelalter-Szenario etabliert worden war. Eine regelrechte Antithese zu GoT stellt "The Expanse" in der Hinsicht dar, dass es die mittlerweile zum Klischee verkommene Devise "Anyone can die" unterläuft. Man muss nicht ständig um jeden seiner Lieblings-Charaktere bangen. Die Serie hat ein Herz für ihre Figuren und hat es nicht nötig, in jeder zweiten Folge eine von ihnen "überraschend" und eiskalt über die Klinge springen zu lassen, und wenn doch mal jemand abtritt, wird das mit angemessenem Pathos inszeniert. (N.b.: Ich kenne die Buchvorlage von James S.A. Corey nicht.) Überhaupt gelingt es den Drehbüchern, dass man selbst als Unsympathen eingeführten Figuren nach einer Weile etwas abgewinnen kann. Verdammt, sogar der von dem auf Fiesling-Rollen abonnierten Burn Gorman verkörperte Adolphus (!) weckt vereinzelt so etwas wie Verständnis beim Zuschauer. Das war übrigens eine dieser Casting-Entscheidungen, die Serienjunkies beim Schauen von "The Expanse" immer wieder ein Lächeln aufs Antlitz zaubern; Staffel 3 hatte Elizabeth Mitchell ("Lost") und Chris Owens ("Akte X"). Ich bin gespannt, mit wem wir es in den nächsten Episoden zu tun bekommen.

Über The Book of Boba Fett wurde viel geschrieben und gesagt, u.a. vom Wortvogel und von ScreenCrush, dessen Analyse-Videos wie schon bei "The Mandalorian" für mich zu jeder Session, als Nachschlag quasi, dazugehörten. Was hier wie dort als Negativpunkte angeführt wurde, ist mir persönlich gar nicht ins Gesicht gesprungen und kann von mir nur partiell mitkritisiert werden, am ehesten noch die Tatsache, dass wir es qua Setting und Protagonistenzeichnung abermals mit einem Western zu tun bekommen haben. Klar, ab und an ein Planet mit Variation in Klima und Oberfläche wäre nett gewesen (immerhin versetzt uns Kapitel 6 in die Wälder, wo – na, das verrate ich nicht, falls ein/e Leser/in die Serie schändlicherweise noch nicht gesehen hat!), aber passt der Wilde Westen zu einem Kopfgeldjäger nicht wie Kit Fisto aufs Auge? Ich könnte noch dies und das anmerken, etwa zu befremdlich wirkenden Szenerien und Charakteren, die eine Art negativen Uncanny-Valley-Effekt auslösen, weil sie wie der Fleischkühlraum in Kapitel 5 oder die albernen Mods "too close to real-life" sind. Selbstverständlich darf man sich auch fragen, warum die Macher der Figur, nach der die Serie benannt ist, nicht zutrauen, eine gesamte Staffel zu tragen, und stattdessen (nicht unelegant) den Bogen schlagen zu ... aber das hieße schon wieder spoilern. Das Positive überwiegt ohnehin. Es gab sooo viele herrliche Einfälle, Verknüpfungen, Anspielungen und wie immer kinoreife Schauwerte, dass ich das nächste Star-Wars-installment "Obi-Wan Kenobi" kaum erwarten kann.

Größtenteils charmant war die Fortsetzung von Master of None. Am besten gefallen hat es mir, wenn sie sich was getraut hat, beispielsweise gibt es eine Hommage auf "Fahrraddiebe", eine Bottle Episode und eine Lower Deck Episode, wo wir ganz gewöhnliche Menschen in New York verfolgen. Von solchen Experimenten hätte ich mir mehr gewünscht, ansonsten bietet die Staffel nämlich mehr vom Gleichen, die Themen race, Identität, struggle im TV-Business und Singledasein stehen im Fokus. Aziz Ansari hat erkannt, dass die Geschichte von Dev auserzählt ist und keine weitere Season benötigt – wohl aber gibt es ein Spin-off mit Devs Freundin Denise, auf das ich schon gespannt bin.