Eine verhärmte vierköpfige Familie sitzt an einem tristen, aber immerhin einigermaßen feiertagsgemäß eingedeckten Esstisch. Stumm und gesenkten Hauptes wird gespeist.
Vater (nach einer Weile das Schweigen brechend): Der Braten ist hervorragend gelungen, Mutter!
Mutter: Danken wir dem Herrn, dass Er dir ein Kaninchen vor die Flinte gescheucht hat.
Vater: Amen!
Tochter (mit verengten Augen): Wisst ihr ...
Sohn: Lass gut sein!
Tochter: Wisst ihr, an was beziehungsweise an wen mich dieser Braten erinnert? AN MEINEN BRUDER.
Vater (den Kopf nach hinten werfend): Here we go again ...
Mutter: Was meinst du bloß, Kind?
Sohn: Bitte! Fang nicht wieder an, Gretel.
Tochter: Ich will's erklären, gute Mutter. Der Braten lässt mich daran denken, wie Hänsel gestern um ein Haar von einer Hexe in den Ofen geschoben worden wäre!
Vater: Wäre. WÄRE!
Sohn (im Essen herumstochernd): Sag mal ... ist das etwa Pfefferkuchensoße?
Mutter: In der Tat! Artig, nicht?
Tochter: Findest du das nicht ein wenig makaber? Braten, Pfefferkuchen ...
Mutter: In dem Haus wohnt doch nun sowieso niemand mehr, da dachte ich, können wir die Bausubstanz doch weiterverwenden.
Vater: Eure Mutter ist eben pragmatisch. Wir müssen rationieren und haushalten, wo wir können, jetzund da wir wieder vier Personen sind.
Tochter: Ach jaaa, weil euer Plan nicht aufgegangen ist, uns IM WALD VERHUNGERN ZU LASSEN.
Vater (haut auf den Tisch): Keineswegs wäret ihr verhungert!
Mutter: Genau! Die Hexe hätte euch doch prächtig gemästet, bevor sie euch geschmort und gefressen hätte. Zumindest dich, Hänsel.
Sohn (stochert weiter in seiner Portion herum): Augenblick, seh' ich richtig? Ist der Braten mit Brotstückchen gefüllt? Sind das etwa die Krumen, die wir im Wald ausgelegt haben, um den Rückweg zu finden?
Mutter (druckst): Nun, also ...
Tochter: Wow. Einfach wow.
Vater: Die hätten sich doch sowieso die Vögel geschnappt.
Sohn (mit ausgestrecktem Finger auf seine Eltern deutend): DAS werde ich euch nie verzeihen!
Vater: Soll ich an dem Finger fühlen, ob du bald fett bist?
(Mutter, Tochter, Sohn schnappen entsetzt nach Luft.)
Vater: Ähem ... Okay, das ... das ging zu weit, Entschuldigung. Ist wohl zu früh für solche Scherze.
Mutter (gekünstelt lachend): Ha, wie wäre es mit Nachtisch? Seht, ich habe eine Lebkuchencreme gehext, mit Spekulatiusbröseln und Zimtsoße.
Sohn (sarkastisch): Ei, immer her damit. Ich habe schließlich kolossalen Hunger. Ihr wisst schon, weil ihr uns doch ZUM STERBEN IN DEN WALD geschickt habt!
Vater (in seinen Bart nuschelnd): Wenn ihr wenigstens ein paar Früchte mitgebracht hättet ...
Sohn: Was war das?!
Vater: Nichts.
Tochter: Ein toller Ostersonntag, wahrlich. Eisekalt ist es obendrein.
Vater: Ich wollte ja heute morgen Feuerholz holen, aber in den scheiß Gruselwald bringen mich keine zehn Pferde, lol.
Sohn: Wieso zieht's denn hier überhaupt so?
Mutter: Der Wind, der Wind, das himmlische Kind.
(Alle lachen wie aus einem Halse.)
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