Was auch gut "geht" als Einzeldisziplin: Wandern. Versteht mich nicht falsch, ich erkunde gerne und regelmäßig in Gesellschaft die heimische Natur, bin kein eigenbrötlerischer Waldschrat, aber Solo-Wandern hat den Vorteil, dass man dabei Podcasts hören und/oder seinen Gedanken einmal freien Lauf lassen kann. Hinzu kommt in meinem Fall, dass ich nicht mit dem besten Orientierungssinn ausgestattet bin. Mehr als einmal schon musste ich meiner Begleitung schamvoll gestehen, dass ich bei der letzten Gabelung die falsche Entscheidung getroffen habe und wir jetzt leider 30 Minuten retour stapfen müssen ... Bin ich allein, kann's mir wurst sein; ich bin nur für mich verantwortlich.
So frustrierend es sein mag, sich zu verlaufen, so folgenlos ist es doch hierzulande in der Regel. Wir sind ja nicht in Amerika, wo man bei Unachtsamkeit durchaus fernab jeglicher Besiedlung und Wegenetze landen kann. Oder wo jährlich massenhaft Menschen in Nationalparks verschwinden. Wo man sich in Todeswüsten, Bärenrevieren oder Hexendickicht verliert. Nicht von ungefähr kommen die unzähligen Filme, in denen der verführerische Ruf der Wildnis zum Verhängnis wird: die Antithese zur Zivilisation, das ungebändigte "Da draußen" als tückische Falle für Erholung und Zerstreuung Suchende. Wer in Deutschland vom Weg abkommt, findet trotzdem zuverlässig irgendeine Straße, bevor die Sonne untergeht ... hatte ich bis zum Februar 2021 zumindest gedacht. Seitdem weiß ich: Sollte es eine Region in Hessen geben, wo getting lost wie im Horrorfilm möglich ist, dann der Burgwald. Behaupte ich einfach mal.
Meine erwähnte miese Orientierung wurde mir angesichts der Wildheit dieses Ortes zum Verhängnis. Okay, "Verhängnis" ist ein dramatisches Wort, aber zwischenzeitlich wurde es mir doch etwas mulmig zumute. Die Hauptschuld an meinem immer fataleren Abdriften von der Route schiebe ich auf die Wegbeschreibung der FAZ, die nicht nur konfus wie gewohnt war, sondern auch einen faktischen Fehler in der beigefügten Karte enthielt: Zu 95 % bin ich mir sicher, dass der zu gehende Pfad an der verkehrten Seite der Wetschaft eingezeichnet war. So landete ich beizeiten an einem Pfad, der vom Forstamt für die Öffentlichkeit gesperrt worden war. Brav kehrte ich um, nahm einen Umweg und stand bald vor einem weiteren "Durchgang verboten"-Schild samt Flatterband. (Dazu ist noch anzumerken, dass die FAZ-Wanderbeschreibung ein paar Jahre alt war. Auf die behördlichen Einschränkungen und die ihnen zugrunde liegenden Gefahren wurde in dem Text folglich nicht eingegangen.) Nun wurde ich zu gleichen Teilen kopflos und übermütig. Ich stieg über die Absperrung und schritt voran, aufpassend, dass ich nicht von einem fallenden Baum erschlagen würde. Nach einer Weile stand ich vor einem Abschnitt, der überschwemmt war, denn das Tauen immenser Schneemassen hatte kurz zuvor eingesetzt.
Wegweiser zeigten in Richtungen, in die ich gar nicht wollte. Ich wollte nur nach Hause, oder wenigstens in einen der angrenzenden Orte (Münchhausen, Roda)! Ich schien wieder die Frostgrenze überschritten zu haben, als es anfing zu dämmern.
Als dann auch noch meinem MP3-Player der Saft ausging, konnte ich nicht mal mehr mit "Overthinking It" & Co. meine aufsteigende Panik in Zaum halten. Den Akku meines Smartphones wollte ich schonen, zumal ich ohnehin nichts hätte streamen können, da in dem ganzen Gebiet kein Mobilnetz verfügbar ist. Auf Google Maps war ich ein winziger Punkt im Nirgendwo. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wie ich es schließlich nach Münchhausen schaffte. Dort hatte ich jedenfalls wieder genug Internet, um die Abfahrtszeit der nächsten (letzten?) Regionalbahn zu ermitteln: Sie war sehr nah! Wie mit dem Beelzebub im Nacken sprintete ich zum Bahnhof. Ein alter Herr rief mir entgegen: "Naa, immä mit dä Ruh, nur net hetze!" Hechelnd saß ich kurz darauf in einem wärmenden Zug und fuhr durch klirrende, pechschwarze Winterlandschaften nach Frankfurt zurück.
Diese Episode erinnerte mich später an ein außergewöhnliches Buch, das ich mir 2013 bestellte, nachdem es Dietmar Dath in der FAZ besprochen hatte: "Skogtatt" von Ulrike Serowy. Mit stimmungsvollen Illustrationen von Faith Coloccia angereichert, ist diese bibliophile Rarität "der Versuch, extreme Musik in Worte zu kleiden", nämlich Black Metal in eine (zweisprachige) Kurzgeschichte. Und nach diesem Abenteuer im Burgwald konnte ich mich in die Hauptfigur hineinversetzen. "Er fiel", heißt es am Ende. "Blieb liegen Das Gesicht im Schnee So schwer fällt das Atmen Und dann kam die Wärme in ihn". Ja, wie Terje Bakken, der Frontmann von Windir, der 2004 viel zu jung in einem Schneesturm erfroren ist, hätte ich enden können. Ihm sowie allen Verirrten, die in den norwegischen oder anderen Wäldern ihr Leben ließen, ist dieser Beitrag gewidmet.
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