Es gibt Games, bei denen ich nach fünf Minuten weiß: Das ist genau mein Ding, ja, das wird was. "Firewatch" ist ein Paradebeispiel dafür. Ich bin ein Enddreißiger namens Henry und bekomme meine eigene Vergangenheit als "Was bisher geschah"-Text präsentiert, während ich herumlaufe und mich so mit der – recht simplen – Steuerung vertraut mache. Mehr oder weniger einschneidende Ereignisse bestimme ich retroaktiv, indem ich etwa aus zwei vorgegebenen Alternativen wähle, welchen Hund meine Partnerin und ich uns damals angeschafft haben. Die Brocken werden immer dicker, die Schicksalsschläge sitzen tief ... *record scratch* Ich spaziere durch den Shoshone National Forest in Wyoming, um meinen Aushilfsjob als Feuerwächter anzutreten, aus einem inneren Beweggrund, den ich mir ebenfalls aussuchen kann. Waldbrände sind Ende der 1980er Jahre, nicht nur hier, eine ständige Bedrohung, die zu bekämpfen ich durch Erkundungsgänge sowie von meinem exponierten Wachposten aus (ein schweinegemütlicher Ranger-Turm) helfe. Meine einzige Kontaktperson ist meine Vorgesetzte Delilah, die ich nie zu Gesicht bekomme. Über Walkie-Talkie erteilt sie mir Befehle und Ratschläge, wobei das erste Gespräch mit ihr nicht das strahlendste Licht auf sie wirft. Für ihre übergriffige Fluchtirade entschuldigt sie sich am nächsten Morgen, sie hatte wohl zu tief ins Glas geschaut; sieht so aus, dass nicht nur ich mein Ränzlein zu tragen habe. Wir kommen uns durch gemeinsames Seelen-Striptease immer näher, zudem habe ich die Gelegenheit, Delilah über jede Auffälligkeit in der Natur zu unterrichten, genauso gut kann ich das aber bleiben lassen, wie ich mich auch stets in Ton und Wahrheitsgehalt zwischen mehreren Optionen entscheiden darf. Hier ist ein erster kleiner Kritikpunkt anzubringen, denn was ich sage und wie, hat im weiteren Spielverlauf kaum spürbare Konsequenzen. Auch meine anfangs festgelegte Biographie wirkt sich zwar gelegentlich auf die Walkie-Talkie-Talks, nicht aber auf die eigentliche Story aus.
Diese funktioniert so oder so phantastisch. Denn selbstverständlich geschehen schon bald unvorhergesehene, beunruhigende Dinge im Nationalpark. Jeder neue Tag kann eine Überraschung bringen. Genau, "Firewatch" spielt nämlich nicht "am Stück", sondern über mehrere Wochen hinweg. Es gibt Zeitsprünge, und sobald wir eine Tagesmission erfüllt haben oder ein bestimmtes Event getriggert haben, endet das Kapitel. (Das wäre ein zweiter Minuspunkt: Manchmal hätte ich an einem Tag gerne noch mehr erkundet, denn der Park lädt durchaus zum Sandboxing ein, doch dann setzte ich unwillentlich irgendeine Aktion in Gang, die mich in die Zukunft katapultierte.)
Meine wichtigsten Hilfsmittel sind Karte und Kompass. Weil meine Erfahrung mit diesen Werkzeugen sowie mein Orientierungssinn allgemein nicht herausragend sind, fürchtete ich zunächst, mich ständig zu verlaufen, aber man lernt den Umgang mit Karte und Kompass erstaunlich rasch – und somit auch etwas fürs echte Leben. Weitere Items finde ich u.a. in Versorgungsboxen, welche zusätzlich so manches enthalten, was zum Environmental Storytelling beiträgt. Musik und Geräusche werden prima eingesetzt ("The sound design was lauded to have evoked a Hitchcockian sense of fear." Wikipedia).
Ist das 2016er Debut von Campo Santo (die seit 2018 zu Valve gehören) gameplay-technisch eher mau? Das soll jeder für sich entscheiden. Für mich erfüllt "Firewatch" alle Kriterien für ein einnehmendes, lange nachwirkendes Spiel-Erlebnis. Wunderschöne Landschaften durchstromern, einem fesselnden Mysterium auf den Grund gehen, hervorragend vertonte Dialoge führen, und das alles aus der Ego-Perspektive eines lebendigen Charakters mit tragischem Background? Das taugt mir und hat mich bis zum Abspann nach circa fünf Stunden exzeptionell unterhalten. "Firewatch" gehört zum Besten, was ich in den letzten Jahren gespielt habe.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen