Es ergab sich, dass ich über mehrere Monate hinweg "Life Is Strange 2" und "Life Is Strange: True Colors" parallel gespielt habe. Es liegt also nahe, beide in einem Abwasch zu bewerten, wobei mir kein direkter "Vergleichstest" zweier miteinander konkurrierender Games vorschwebt. Mir schwebt, ehrlich gesagt, noch gar nichts vor. Mal sehen, was passiert, wenn ich meine ungeordneten Gedanken niederschreibe.
"Life Is Strange 2" (im Folgenden: LIS2) erschien in fünf Episoden von 2018 bis 2019, "Life Is Strange: True Colors" (TC) kam als Gesamtpaket 2021 heraus und stellt das bis dato letzte installment der Life-Is-Strange-Reihe dar, sieht man von der heuer veröffentlichen "Remastered Collection" ab. Für LIS2 habe ich circa 17 Stunden gebraucht, für TC rund 15 Stunden, jedoch über einen deutlich kürzeren Zeitraum als für Ersteres. Diese Tatsache könnte den Verdacht erhärten, dass ich von TC mehr gefesselt war, aber so einfach ist es nicht. Vermutlich lag es daran, dass man sich für die Story vom bewährten Episoden-Prinzip verabschiedet hat. So geht sie "wie in einem Rutsch" von der Hand, man wird leichter mitgerissen. Bei LIS2 werden klare Zäsuren gesetzt, jedes Episodenende geht mit einem Cliffhanger einher, zudem sind die Entscheidungen härter, schwieriger und folgenreicher. Bei TC wird man zwar auch oft genug vor die Wahl gestellt, und auch da sind je nach Entscheidung verschiedene Spiel-Ausgänge möglich, bei LIS2 aber braucht man öfter mal eine Verschnauf- oder Verdauungspause. Ich glaube, bei LIS2 sind insgesamt fünf unterschiedliche Enden möglich, und jedes davon hat den gewissen "Uff!"-Faktor. Da ist das Schicksal unserer Hauptfigur in TC "banaler". Damit möchte ich die sich entspinnenden Geschehnisse und das Drumherum nicht trivialisieren: TC hat auch jede Menge Substanz, Drama und Spannung zu bieten, Abgründe tun sich auf, Verbrechen kommen ans Licht.
Nun, worum geht es überhaupt? Dazu möchte ich nichts verraten. Glaubt mir: Sich blind hineinzustürzen, mehrt das Vergnügen. Es sei nur festgehalten, dass sich die zwei Spiele schon im erzählerischen Genre voneinander unterscheiden: LIS2 ist ein Roadmovie, TC ist ein Krimi. Bei ersterem gibt es wesensgemäß mehrere Ortswechsel, man kommt von Washington State über Oregon und Kalifornien nach Nevada und Arizona, während sich die Handlung von TC streng auf einen Ort konzentriert. Und diese Ortschaft ist einer der dicksten Pluspunkte des Spiels, sein heimlicher Star sozusagen: Das fiktive Haven Springs, Colorado, ist ein stadtgestalterischer Wunschtraum, ein Idealkaff, ein schillerndes, gelecktes Shangri-La für erdverwachsene Hipster, die von einem besseren Amerika träumen. (Unnötig zu sagen, dass es unter der bunten Oberfläche brodelt und das Aufdecken eines düsteren Geheimnisses unsere Hauptaufgabe ist.) Auf dem großen Fernsehbildschirm wirkt dieses Anti-South-Park, dieses Miniatur-Portland natürlich besonders grandios:
LIS2, das ich auf dem Notebook gespielt habe, kommt ein wenig rauer, staubiger, trostloser rüber, wobei ausgesuchte Wüstenlandschaften und Nationalparkrouten freilich auch ihren eigenen Charme haben. Überhaupt habe ich in Sachen Graphik so wenig zu beanstanden wie an der musikalischen Untermalung, auch die Mimik und die Animation der Figuren taugen mir und wirken an keiner Stelle der Glaubwürdigkeit entgegen. Die wie immer famos geschriebenen Dialoge und das Verhalten der Akteure festigen einmal mehr den exzellen Ruf des "Life Is Strange"-Franchise', die Nase weit vorn zu haben, wenn es um Charakterdesign geht. Beide Abenteuer – LIS2 wurde von Don't Nod, TC von Deck Nine entwickelt – zeichnen sich durch ein hohes Maß an Authentizität und menschliche Glaubwürdigkeit aus. Wer aber sind diesmal die Akteure? Die Protagonistin von TC heißt Alex, ist Anfang 20 und kehrt nach vielen Jahren im foster care system in ihre Heimatstadt Haven Springs zurück, wo sich ihr Bruder inzwischen so etwas wie eine Familie aufgebaut hat. LIS2 dreht sich um die Diaz-Brüder, 16 und 9, die bei ihrem Vater, einem mexikanischen Einwanderer, leben (die Mutter hat sich vor langer Zeit davon gemacht), bis sie ein drastisches Vorkommnis zur Flucht zwingt.
Die meiste Zeit steuern wir zwar den älteren, Sean, über die besondere Fähigkeit, die mehr als einmal gameplay- und plotrelevant ist, verfügt indes nur unser kleiner Bruder Daniel. Ganz genau, übernatürliche Kräfte spielen in beiden Adventures wieder eine essentielle Rolle: In Daniels Fall kommt sie handfester und urwüchsiger daher (Telekinese), bei "True Colors" ist sie subtiler und für andere nicht wahnehmbar (Alex kann Gedanken lesen und Emotionen von Menschen in der Nähe synästhetisch wahrnehmen). Hier wie da haben die Fähigkeiten nicht nur Vorteile und bringen ihre\n Träger/in regelmäßig in Dilemmata und mittelschwere innere Konflikte. Ich persönlich konnte mich sowohl in Sean als auch in Alex einwandfrei hineinversetzen und ihren inneren wie äußeren Reisen, Kämpfen und Metamorphosen mit Freude (und, wenn es sein musste, mit Traurigkeit) wie selbstverständlich folgen.
PS: Zu beiden Games ist je ein kürzeres Add-on erschienen. Gespielt habe ich nur das zu LIS2, "The Awesome Adventures of Captain Spirit", das ebenfalls traurig-schön geraten ist.
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