Die meisten Subkulturen des Westens gab es spätestens Ende der 1980er Jahre, zumindest in kleinem Rahmen und im Verborgenen agierend, auch in der DDR. Davon zeugen etliche Bücher sowie Film- und TV-Dokumentationen, man muss ja nur mal "Hip-Hop in der DDR", "Heavy Metal in der DDR", "Gaming-Szene in der DDR" oder was einem sonst so einfällt in eine Suchmaschine eingeben. Wovon ich aber noch nie gehört hatte: Rollenspiele in der DDR. Ob es Pen&Paper oder etwas Vergleichbares wohl im realsozialistischen Ostdeutschland gegeben hat?, fragte ich mich deswegen neulich.
Nun, auf die Suchanfrage "pen and paper in der ddr" o.ä. erhält man keine Ergebnisse. Weil Google schlau ist, leitete es mich aber immerhin auf das Fantasy-Forum "Tanelorn", wo es einen Thread mit dem Titel "'DDR-Rollenspiel'?" gibt. Er ist von 2009, und in ihm ist ein älterer (von 2005) verlinkt. Weil mir bewusst ist, dass Internetseiten so vergänglich sind wie totalitäre Staaten, kopiere ich die bemerkenswertesten Passagen hier rein, wogegen hoffentlich niemand etwas hat.
Soweit ich weiss, wurden keine Rollenspiele produziert, und ob private Westimporte erlaubt waren, weiss ich nicht. Das Interessante ist ja, dass wohl einige Leute von selbst auf die Idee gekommen sind.
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Das ist in der Tat interessant. Allerdings gab es schon so ne Art RPG-light, was aber eher"Selbstauflösekrimis" waren.
Ich kann das nur von meinem Ex-Lehrer schildern. Da hat vor Ferienbeginn immer so ein Buch mitgebracht, in dem "Kriminalfälle" beschrieben waren. Das Ende war erstmal offen. Die Klasse durfte dann überlegen, warum und wie und weshalb ... zum Schluss gab es die Auflösung. So ähnlich, wie in manchen Zeitungskrimis. Ist zwar nicht ganz Rollenspiel, hat aber ähnliche Aspekte.
Etwas rollenspielähnlicheres hatte mal eine damalige Mitschülerin mitgebracht. Ein Buch, in dem man selbst bestimmen konnte, wie die Geschichte verläuft. So nach dem Motto: Wenn Du möchtest, dass XY dies tut, lies ab Seite 123 ... etc. Eigentlich also ein Soloabenteuer ;)
Mit Letzterem ist offenbar eine Art "Choose Your Own Adventure" gemeint. Kann freilich ein West-Import gewesen sein.
Spannend wird es, als sich derjenige zu Wort meldet, der tatsächlich mit Freunden zusammen ein rudimentäres Regelsystem entwickelt hat und somit als "Roleplaying-Game-Vater des Ostens" bezeichnet werden könnte:
Ich habe zu DDR-Zeiten Spiele erfunden. Das erste Spiel war ein Ding namens "Tank" und war ein 1. Weltkrieg Wargame. Da ich keine originalen Wargames kannte borgte ich Regelideen aus klassischen Brettspielen wie Schach, Mensch ärgere dich nicht!, usw.
Damit war ich sogar auf der Kinder-und Jugendmesse: "MesseMeister von Morgen" (oder so...)
Leider kam ich nicht in die engere Auswahl, obwohl ich es relativ weit schaffte (das war ein DDR-weiter Kontest), da es den Juroren zu kriegstreiberisch war.
Die nächsten Spiele waren Brettspielumsetzungen bekannter Spielautomaten, die man in der DDR nur auf Jahrmärkten zocken konnte. Ich hatte mein eigenes Jump en Run und "Von oben-Raumschiff-Ballerspiel"...
Irgendwann schaute ich auf ARD (ja, das böse West-Fernsehen) mal einen Beitrag über eine Spielemesse im Westen (verzeiht mir die billigen geographischen aber politisch angehauchten Ausdrücke - ich erinnere mich nur gerade daran wie es sich damals anfühlte...) und dort waren auch Szenen mit Figuren, die durch irgendwelche Gänge krauchten und sehr cool aussahen.
Das wollte ich auch spielen! Nur leider vergaß ich die Idee irgendwie wieder bis, ja bis ich E.T. im Kino sah. Zur Information: E.T. kam im Osten erst irgendwann 1987/88 in die Kinos. Dort spielen sie in den ersten Minuten des Films ein Spiel, mit diesen Figuren und unterhalten sich darüber! Ein Satz war dabei sehr wichtig: "Bei dem Spiel kann man nicht verlieren, Mom!" (oder so ähnlich) Dieser Satz war mein persönliches Heureka! und ab da probierten meine Freunde und ich aus wie es wäre ein Spiel zu haben, mit dem irgendwie etwas nachgespielt werden konnte - das Leben und so!!!
Wir hatten alle eine erstaunliche Sammlung an Rittern, mit denen wir uns regelmäßig Schlachten lieferten. Da hatten wir schon ein kleines Regelgerüst. Der wichtige Unterschied war nun, dass wir die Dinge die zwischen den Schlachten passierten (Wie das neue Reitpferd erkämpft oder gewonnen wurde, usw.) in das Regelgerüst einbezogen. Zum Schluss ging es dann fast ausschließlich um diese Zwischengeschichten. Wir hatten keinen Namen für unser Spiel aber es glich einem richtigen Rollenspiel auf erstaunliche Weise. Im Übrigen hatten wir ein Pool-Würfel-System und sehr harte Kampfregeln.
Nach der Wende brachte Uwe ein Spielbuch mit und kurze Zeit später - auf einer Klassenfahrt - kaufte ich DSA. Was wir, obwohl ehrfürchtig und sehr gespannt darauf, für schlechter als unser eigenes System befanden. (zu kompliziert... und langsam, meine ich zu erinnern)
Erst AD&D1st und etwas später Runequest2nd machten uns glücklich, daneben Battletech und später AD&D2nd, Shadowrunn, und viele anderen mehr.
In einem späteren Post geht er sogar ins Detail:
Zur Würfelmechanik: man musste, je nach Schwierigkeit, mit W6en einen Zielwert erreichen oder übertreffen. Wer besonders gut war, der musste halt nur 2en würfeln! Besondere Handlungen gaben einen mehr Würfel in die Hand. Zum Schluss würfelten wir immer mit mindestens 3 Würfeln - keine Ahnung mehr warum! Wahrscheinlich weil es sich so eingebürgert hatte.
Um es dann schwerer zu machen haben wir für widrige Umstände Würfel abgezogen. Also fast eine Umkehrung der ursprünglichen Mechanik. Wiederum habe ich keine Ahnung mehr warum.
Wir würfelten eigentlich bei fast allen Aktionen! Würfeln war geil! Und wir achteten das Ergebnis - es sei denn es betraf einen der Lieblingscharaktere, da konnte es schon die oben angesprochenen "Richtigstellungen" geben.
Wir hatten keine extra Kampfregeln. Alles ging mit der gleichen Mechanik. Es gab auch keinen SL. Warum auch? Es war schließlich unsere gemeinsame Welt!
Wir hatten alle Erfahrungen in diversen Kampfsportarten (Boxen und Judo) und mussten daher auch zielen, eine Technik ansagen, usw. Wer getroffen wurde bei dem geschah das, was normalerweise mit einem geschah wenn die Technik klappte. Da wir keine Erfahrung mit Waffen hatten konnten wir da nur extrapolieren - das Ergebnis war meist fatal! Es gab keine Initiative, keine HP, usw. Am Anfang, jedenfalls erinnere ich das so, würfelte der schneller Spieler und das galt, aber dann wurde dagegen gewürfelt - der bessere gewann.
Ein paar Schwierigkeiten traten mit nicht vollständig gemeinsam unternommenen Spielen auf. Meist fühlte sich derjenige, der nicht daran teil genommen hatte, hintergangen - es gab öfters Streit darüber! Ich glaube das war einer der Gründe für eine lange Pause oder sogar das Ende des Spiels!
Mehr als einmal kommt die Frage auf, ob Rollenspiele eine Chance auf kommerzielle Herstellung und Verbreitung gehabt hätten. Verschiedene Gedanken werden dazu geäußert:
Ich glaube Rollenspiele sind aus sozialistischer Sicht suspekt, weil sie eskapistische Pflaster auf den schwärenden Wunden des Kapitalismus sind. Sie lenken die arbeitenden Massen davon ab, ihre tatsächliche Situation zu erkennen, und sich übergreifend zu solidarisieren. Sie verbreiten also falsches Bewusstsein. Blablabla.
Glaube nicht, dass man das erlaubt hätte.
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Meine Vermutung ist, dass dieses Spiel nie hätte veröffentlicht werden können, da es eskapistische Tendenzen hatte und kriegstreiberisch war. Das gleiche Gerüst auf ein Rollenspiel im 3. Reich aufgestülpt, man spielt dann selbstverständlich einen Widerständler, hätte womöglich ein paar offene Ohren mehr gefunden... Aber trotzdem zu sehr Spiel und womöglich mit den Worten abgetan:"Mit solchen Themen spielt man nicht!"
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Ich könnte mir durchaus auch vorstellen, dass irgend so ein Kunstministeriuim dann - ideologisch eingefärbt - die ein oder anderen Rollenspiele in Auftrag gegeben hätte. Auch denke ich, wird heute manches zu sehr verklärt ... man hätte sich mit Sicherheit eine (private) Nische gesucht. Das gilt insbesondere, weil ja die Ostblöckler allgemein nicht unbedingt der Phantasie abgeneigt waren (z.B. genießen manch russische ScFi-Geschichten immer noch hohes Ansehen ...).
Man muss m.M.n. scharf zwischen Fantasy und Science-Fiction trennen. Auch das kommt mehrmals zur Sprache. Wie man weiß, hatte SciFi bzw. "utopische Literatur" im Ostblock ein beachtliches Standing, das Genre hatte renommierte Vertreter mit einer treuen Leserschaft hervorgebracht. Fantastische Literatur im engeren Sinne hingegen dürfte weitgehend unbekannt gewesen sein. Ob Fantasy in der DDR richtiggehend "verpönt" war und unterdrückt wurde, darüber kann ich nur spekulieren. Raumfahrt, Robotik und sonstige technische Innovationen, das waren natürlich Symbole einer glorreichen fortschrittlichen Zukunft unter dem roten Banner. Dazu muss Fantasy mit ihrem typischen Komplex Mittelalter / Hexerei / Schwertkampf / ständisches Denken usf. in krassem Widerspruch gestanden haben. Möglicherweise waren Fantasy abseits von "Herr der Ringe" und erst recht entsprechende Spielsysteme aber auch westlich des Eisernen Vorhangs schlicht zu nischig. Wer weiß, wenn Pen&Paper in der BRD der Achtziger die Popularität von heute gehabt hätte, wäre vielleicht mal ein DnD-Buch auf verschlungenen Pfaden nach Ost-Berlin gelangt und hätte Anreize für Home-brew-Systeme geschaffen.
Zum Schluss ein Wort über meine eigene Rollenspiel-Prägung. Oh, wie gerne wäre ich schon als Schüler in einer Rollenspielgruppe gewesen! Mir war das Konzept spätestens um die Jahrtausendwende herum aus dem World Wide Web bekannt, ich zockte auf Dungeons & Dragons basierende Computerspiele, studierte Regelwerke, besorgte mir sogar das "Forgotten Realms Campaign Setting", las neidvoll Kampagnen-Recaps in Message-Boards, allein, ich hatte den falschen Freundeskreis. Ach was: Ich kannte nicht mal Freundeskreise mit diesem Hobby, zu denen ich hätte stoßen können. Auch an der Uni ist mir nie jemand begegnet, der es praktizierte. (Ich war allerdings noch nie sehr kontaktfreudig.) Seit nunmehr einigen Jahren habe ich das Glück, Teil einer Pathfinder-Runde zu sein, und so kann ich meine Jugend partiell nachholen. Das war übrigens ein weiterer einschneidender Aspekt der Corona-Pandemie: dass man sich nicht mit Gleichgesinnten zum Live-Spielen treffen konnte. Ich breche eine Lanze für Fantasy-RPGs. Eskapismus, Improvisation und strenges Reglement: what's not to like?
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