Ladies and gentlemen, wir haben ein Sommerloch! Diese Ausgabe ist, um das vorwegzunehmen, kein Fehlschlag, doch merkt man fast jeder Seite an, dass aufwühlende Themen und Debatten rar gesät waren. Heutzutage unvorstellbar! Immerhin die "Schnüffelaffäre", die bereits im Juliheft ihren Schatten sozusagen vorausgeworfen hatte, schien genug Momentum aufgenommen zu haben, um den Titel (Idee: Stefan Gärtner) zu stemmen.
Entsprechend schwer taten wir uns damit, einen Aufmacher aus der Taufe zu heben. Es wurde auf den letzten Drücker ein recht zielloses "Heft im Heft", die "Bunte Politik Edition" (S. 13-17), die Michael Ziegelwagner und ich in chaotischer Zusammenarbeit erstellten (bemerkenswerterweise mein einziger Beitrag in diesem Monat abgesehen von der Aboanzeige und einem winzigen Kasten in "55ff"!). Na ja, beim Wiederlesen musste ich gerade doch ein paarmal schmunzeln.
Mit Edward Snowden, welcher in dieser Ausgabe mehrmals auftritt, war zumindest das Thema Whistleblower als internationaler Aufreger von Relevanz. Auf S. 28-31 gab es dazu einen an Dürrenmatts "Physiker" angelehnten Dramenauszug von Tietze/Wolff:
Die sonstigen Themen: Grundsteinlegung des Berliner Stadtschlosses (Foto des Monats, S. 22f.), Protest-Sommer (Türkei, Brasilien, Ägypten, Syrien; okay, ich gebe zu: Es war doch einiges los in der Welt), Beginn der Bundesliga-Saison und natüüürlich die kommende Bundestagswahl, wozu es neben einer politischen Umfrage (S. 24f.) und einem weiteren "Der Unglaubliche Ulk"-Comic (S. 34f.) eine hübsche Doppelseite anlässlich eines Moments auf dem SPD-Parteikonvent gab, bei dem Gertrud Steinbrück ihren Mann mit Erinnerungen an gemeinsame Scrabble-Runden zu Tränen gerührt hatte. Das hier ist keine Fotomontage, sondern wurde in liebevoller Handarbeit auf dem Balkon der alten Redaktionsvilla gelegt:
Noch liebevoller wurde der Fuß auf der "55ff"-Titelseite von Sebastian Klug zurechtgemacht: mit Miniaturschlafmützen. Dafür erhielten wir sogar briefliches Lob von einer Leserin, wobei man sich als gnadenlose Satiriker freilich fragen muss, ob man alles richtig macht, wenn man Zustimmung für dezidiert niedlichen Humor einheimst, haha.
Aber S. Klug beherrschte ja auch härtere Klaviaturen und tobte sich auf den Seiten 36 bis 37 provokant-vulgärst über "Die graue Lust" aus: "Sex im Alter ist die größte Perversion des Menschengeschlechts. Sie war es schon seit jeher und wird es immer sein."
Mein Highlight kommt, wie so oft, zum Schluss, nämlich in der Rubrik "Der letzte Mensch", die hier unter dem Alternativtitel "Der liebste Mensch" erscheint und ein "Making of Tom Hintner" enthält. Sehr insiderig und sehr, sehr on point; ich höre beim Lesen jeder Zeile Toms Stimme, die Zitate dürften zu 90 Prozent O-Töne sein. Fischer/Ziegelwagner: "Tausende Arbeitsschritte sind nötig, um aus einem gesunden deutschen Baum eine TITANIC zu drechseln. TITANIC-Grafikchef Tom Hintner leistet jeden Monat zwei oder drei davon. Der umstrittene Kleinkünstler, Politclown und mehrfach vorbestrafte Familienvater über ein Heft, dessen Konzeption er in der Konferenz verschlafen hat".
Weiteres Notierenswertes
- Umschlagseite innen (sog. U2): eine der besten Anzeigenparodien des Jahres; eine Schande, dass ich mich gar nicht mehr an sie erinnern konnte.
- Schon im Editorial wird deutlich, wie kopflos und "Spitz auf Knopf" in jenen Wochen gearbeitet wurde: "Gemeinsam mit mir stehen Sie nun vor dem ersten komplett konzept- und inspirationslosen Editorial. Statt wie sonst weite Bögen zu spannen, das Unwichtige vom Belanglosen zu trennen und Ihnen tüchtig das Gehirn zu waschen, muß ich, gleich Ihnen Opfer dieser journalistischen Extremsituation, hilflos Satz an Satz montieren – ohne selbst zu wissen, worauf ich eigentlich hinauswill. Gleichwohl: Schauen wir mal, wohin uns dieses kleine Textabenteuer führt, lassen wir uns ein auf das Wagnis des automatischen Schreibens!"
- Weird und unerwartet: Dietmar Dath "[z]um Tode des Profi-Emanzipanten Nelson Mandela" (S. 11)
- David Schuh über Georg Diez von "Spiegel online" (S. 58f.): "wer so fragt, will keine Antworten, sondern pseudospekulativ bigstylen, durch Verquastheit Intellekt und durch Totaldeutung Totalkompetenz suggerieren; ein trostloser Bluff, der erstaunlich oft funktioniert."
- Ah, die "TITANIC-Bibel" erschien im September 2013, wie ich einer Werbeanzeige dafür entnehme!
(entfällt wg. Sommerloch)
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