Donnerstag, 10. August 2023

Revisited: Die Regeln des Spiels

Am 19. März 2017 besuchte ich gemeinsam mit einer Freundin die Ausstellung "The Probable Trust Registry: The Rules of the Game" der in Berlin lebenden US-amerikanischen Künstlerin und Kantianerin Adrian Piper. "Ausstellung" ist womöglich nicht der richtige Ausdruck: Das in der Berliner Nationalgalerie der Gegenwart im Hamburger Bahnhof zu besuchende Kunstwerk wird auf der Webseite der Staatlichen Museen als Installation und Gruppen-Performance bezeichnet, bestehend aus "3 grauen raumhohen Wänden, 3 runden goldenen Tresen, goldenen Reliefbuchstaben, 3 Lesepulten, 3 Stehhilfen, Computersystem, 3 Rezeptionsten".

Meine Erinnerungen an diese Erfahrung drohten bereits zu verblassen, aber mit Blick auf die Fotos und Beschreibungen kommen sie wieder. Man betrat also die riesige, gewölbte, nahezu leere Halle und wurde an drei "Rezeptionen" vorstellig. Dort schloss man jeweils einen "Vetrag" mit sich selbst, indem man qua Unterschrift auf einem Touchpad drei "Spielregeln" zustimmte:
1. Ich werde immer zu teuer sein, um gekauft zu werden.
2. Ich werde immer meinen, was ich sage.
3. Ich werde immer tun, was ich sage, dass ich tun werde.

Einem nicht mehr nachzuvollziehenden Gedankengang folgend, unterschrieb ich nur die Verträge 1 und 2, denn allein diese beiden liegen mir noch vor; man bekam sie nach dem Prozedere in gedruckter Form ausgehändigt. Zusätzlich überreichten einem die freundlichen Tresenperson Bögen mit "Handlungsanweisungen". Diese unterschieden sich lediglich hinsichtlich der Nummer der Spielregel, weswegen ich sie hier nur einmal aufführe. Weil ich zu faul bin, die Punkte abzutippen, möchte ich hier und jetzt ein technisches Experiment wagen: Ich werde das Blatt mit meinem Smartphone abfotografieren und den Text mittels OCR auslesen, diesen dann kopieren und in eine Mail einfügen, die ich an mich selbt schicke. Genial? Genial.

Es hat geklappt! Nur einige wenige Korrekturen sowie etwaige Formatierungen musste ich vornehmen.

SPIELREGEL NR. 1 HANDLUNGSANWEISUNGEN:

1. Jede/r Unterzeichner/in unterschreibt und datiert am Empfangstisch eine digitale Persönliche Erklärung auf einem Bildschirm. Anschließend wird die unterzeichnete Persönliche Erklärung zusammen mit dieser Seite, Spielregel Nr. 1 Handlungsanweisungen, auf Papier ausgedruckt.

2 Der/Die Unterzeichner/in lässt am Empfangstisch seinen oder ihren Namen sowie eine Kontaktadresse in ein digitales Verzeichnis aufnehmen.

3. Die Informationen in diesem digitalen Verzeichnis werden der Nationalgalerie-Staatliche Museen zu Berlin gegenüber VERTRAULICH behandelt. Dem Empfangspersonal ist es untersagt, diese Informationen ohne explizite schriftliche Einverständniserklärung des Unterzeichners/der Unterzeichnerin weiterzugeben.

4. Der/Die Unterzeichner/in behält den Ausdruck der unterzeichneten Erklärung sowie der Spielregel Nr. 1 Handlungsanweisungen.

5. Das Empfangspersonal behält im Auftrag der Nationalgalerie-Staatliche Museen zu Berlin die digitale und auf dem Bildschirm unterschriebene Persönliche Erklärung.

6. Die unterzeichnete digitale Persönliche Erklärung wird im Verzeichnis Spielregel Nr. 1 so abgelegt, dass sie dem jeweiligen Namen des Unterzeichners/der Unterzeichnerin und seiner/ ihrer Kontaktadresse eindeutig zugeordnet werden kann.

7. Nach dem Ende der Ausstellung schickt die Nationalgalerie-Staatliche Museen zu Berlin eine Liste, die NUR die nach dem Nachnamen alphabetisch sortierten Namen aller Unterzeichner/innen enthält, an die Unterzeichner/innen der Persönlichen Erklärung der Spielregel Nr. 1 und NUR an diese.

8. Sollte eine Unterzeichner/in der Persönlichen Erklärung der Spielregel Nr. 1 eine/n andere/n Unterzeichner/in kontaktieren wollen, so muss Erstere/r die Nationalgalerie-Staatliche Museen zu Berlin kontaktieren, um die Kontaktdaten des/der Letzteren anzufragen.

9. Die Nationalgalerie-Staatliche Museen zu Berlin muss die ausdrückliche schriftliche Einverständniserklärung des/der Angefragten einholen, bevor seine oder ihre Kontaktdaten an den/die Anfragende/n weitergegeben werden dürfen. Andernfalls gilt die Erlaubnis als nicht erteilt.

10. Das vertrauliche digitale Verzeichnisdokument geht in den verschlossenen Bestand der Nationalgalerie-Staatliche Museen zu Berlin über. Es wird für einen Zeitraum von 100 Jahren, gerechnet vom Enddatum der Ausstellung, für die Öffentlichkeit unzugänglich aufbewahrt.

11. Das Empfangspersonal, die Nationalgalerie-Staatliche Museen zu Berlin sowie die Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin haben allesamt Verwahrungsverträge unterzeichnet, die sie auf diese Anweisungen verpflichten.

NATIONALGALERIE-STAATLICHE MUSEEN ZU BERLIN-PREUSSISCHER KULTURBESITZ

Tatsächlich erreichten mich, wie in Punkt 7 vermerkt, nach dem Ende der rund sechsmonatigen Ausstellungsdauer, nämlich im Mai des Folgejahres, zwei E-Mails mit PDF-Anhängen. 14 eng bedruckte Seiten mit Namen in kleiner Schrift, alle teilgenommen Habenden alphabetisch geordnet. 'Ein datenschutzrechtlicher Albtraum!', dachte ich damals, aber gut, es sind ja nur Namen, und wie man den Punkten 8 und 9 entnehmen kann, darf Kontaktaufnahme ausschließlich über die Nationalgalerie erfolgen.

Ihr steht alle auf meiner Liste!

Und was sollte das nun alles? "Das Werk verhandelt auf dialogische Weise, wie Vertrauen gebildet wird und zielt damit auf die Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen ab. In einem größeren Zusammenhang wirft es philosophische, aber auch ganz praktische Fragen zu demokratischen Prozessen und individueller Verantwortung auf, denn es fordert die Besucherinnen und Besucher nicht nur zu einer Aktion – einem persönlichen Bekenntnis – auf, sondern bringt uns dazu, über unser tägliches Handeln und dessen Konsequenzen auf politischer, ökonomischer und sozialer Ebene nachzudenken." So der offizielle Begleittext. Ich weiß noch, wie ich beim Herausgehen damals recht underwhelmed war. Aber immerhin denke ich über fünf Jahre später noch an diese Aktion.

1 Kommentar:

  1. Hier gibt es so einen zu einem Kunst-Automaten umfunktionierten Zigarettenautomaten, da habe ich mir mal was rausgezogen. Darin bestand sich ein Stück Stoff, das wohl Teil eines großen Gewebeteppichs ist, der über Automaten in ganz Deutschland verteilt ist. Die Idee war wohl eine ähnliche, "Gesellschaft als Teppich!"

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