Das Folgende hat sich bereits im Oktober 2020 zugetragen. Ich habe es (fast) noch niemandem erzählt.
Ich kam mit der Regionalbahn von einer Solo-Wanderung zurück, alles war normal bis zufriedenstellend verlaufen. Frankfurt am Main Hauptbahnhof sollte der nächste und letzte Stopp sein. Doch bis dahin kamen wir nicht: Kurz vor Verlassen des Stadtwaldes (für Eingesessene: etwa auf der Höhe der Station Louisa) gab es eine spürbare Erschütterung, begleitet von einem kräftigen Ka-wumm! oder auch Pardauz! Dann eine Vollbremsung. Alsbald war klar: Der Zug war über etwas gerollt, das dort nicht hätte sein sollen, und es war kein Ast. Es war auch kein Tier.
Rückblick: Wiederum etliche Jahre zuvor saß ich in einem ICE, der mit fast 200 Sachen ein Reh erfasste und am nächsten Betriebshalt seine Fahrt nicht fortsetzen konnte, weil der wuchtige Kadaver blockierend im Radsatz des Triebwagens hing. Ich versäumte es leider, während unserer Zwangsrast ein Bild des unfreiwilligen Passagiers zu machen und dieses auf Twitter mit der Zeile "Im Bordrestaurant servieren wir heute Wildgulasch" zu teilen.
Zurück zur Geschichte, bei welcher mir ganz und gar nicht nach schwarzem Humor zumute war. Es passierte zunächst minutenlang: nichts. Verwirrung und Besorgnis machte sich unter den Mitreisenden breit, wobei die übliche Unruhe und Flucherei ausblieb, die sich normalerweise einstellt, sobald eine Zugfahrt außerplanmäßig unterbrochen wird. Endlich erschien ein Mitarbeiter. Er schritt stracks vom hinteren zum vorderen Waggonende, dabei sich ihm in den Weg Stellende kurz angebunden auffordernd, sitzen zu bleiben und sich zu gedulden. Eine weitere Zugbegleiterin flitzte irgendwo hin; ich vermag nicht mehr zu sagen, wie viel Personal involviert war und was es im einzelnen tat. Nie vergessen werde ich aber jenen Schaffner im Vorruhestandsalter, der die Frage eines Passagiers, ob man aussteigen dürfe, in breitestem Sächsisch beantwortete. Es ist schon putzig – egal, wo in der Republik man den Bahnverkehr nutzt, ein sächsischer DB-Bediensteter ist nie weit. Jedenfalls brüllte dieser Sachse: "Sie können da ni' raus, da draußen is' Hackfleisch!"
Eine knappe Stunde verging ohne für uns Eingesperrte erkennbare Entwicklungen. Doch dann wurden Einsatzkräfte sichtbar. Viele Einsatzkräfte: Feuerwehr, Polizei, Sanitäter usw. Eine Ärztin erschien und fragte jeden einzelnen Fahrgast, ob alles in Ordnung sei, ob Hilfe benötigt werde. Als nächstes bat ein Feuerwehrmann um Aufmerksamkeit: Es werde gleich eine (und zwar nur eine) Tür geöffnet, durch die wir einer nach dem anderen nach draußen geleitet würden. Das geschah dann auch. Weil sich der Ausgang ein gutes Stück erhöht befand, wir waren schließlich außerhalb eines Bahnsteigs zum Stehen gekommen, war eine metallene Leiter vor ihn positioniert worden. Darüber kletterten wir ins Freie, wobei uns links und rechts stützende Hände führten. Durch eine mit Verkehrshütchen markierte Notgasse begaben wir uns über Schotter und Schienen zur nächstgelegenen Tram-Haltestelle. Dort wartete auch direkt eine Straßenbahn, mit der ich günstigerweise bis vor meine Haustür fahren konnte. "Wer so viel und oft durchs Land juckelt wie ich, muss ja rein statistisch früher oder später derartiges erleben", versuchte ich mir den Vorfall zu rationalisieren. Meine Knie zitterten an diesem Abend trotzdem noch ein Weilchen.
Rund zwei Jahre später las ich eine Publikation von Mark Benecke, worin dieser den Wert historischer Lehrbücher der Gerichtsmedizin hervorhob: In solchen finde man nämlich zuweilen aussagekräftige Fotos von Eisenbahnüberrollungsopfern, wie man sie heute kaum noch sehe – unsere schnellen Züge moderner Bauart verursachten keine so "schönen, sauberen Schnitte" mehr. Die Umschreibung "Hackfleisch" war in jenem Fall wohl treffend.
:-O
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