Stellt euch vor, ihr bekommt die Aufgabe, eine Minigolfanlage aufzuwerten. Wie bewerkstelligt ihr das? Mit hoher Wahrscheinlichkeit dadurch, dass ihr aufregende Features einbaut, neue Bahnen anlegen lasst, Hindernisse erweitert, kurz: indem ihr Dinge hinzufügt – auch wenn euch explizit erlaubt worden ist, Dinge zu entfernen, etwa "einen Sandbunker (eine 'Falle', aus der man den Ball nur schlecht wieder herausspielen kann)". Diese Neigung des Menschen zum Hinzufügen wird als addition bias bezeichnet und seit kurzem wissenschaftlich untersucht. Die Minigolf-Aufgabe wurde tatsächlich mit Versuchspersonen durchgespielt, das Ergebnisse 2021 in Nature veröffentlicht:
Die Teilnehmenden sollten alle ihre Ideen auflisten, wie man die Bahn verbessern könnte. Dabei wurden sie auch darum gebeten, auf die Kosten ihrer vorgeschlagenen Änderungen zu achten. Trotz dieses Hinweises generierten nur 28% aller Teilnehmenden zumindest eine einzige Idee, die das Entfernen eines Elements betraf. Und selbst von jenen Teilnehmenden, die nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen wurden, dass sie etwas [...] auch entfernen können, generierten nur 43% zumindest einen Vorschlag, bei dem ein Element entfernt würde.
Der menschliche Instinkt, Verbesserung durch "additive Transformation" erreichen zu wollen, sprich: der Gedanke "Mehr ist besser", scheint sich auch in der (deutschen) Sprache niederzuschlagen. Das legt die jüngere linguistische Forschung nahe. S. Wolfer / A. Koplenig / M. Kupietz / C. Müller-Spitzer vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Mannheim legen ihre diesbezüglichen Erkenntnisse in Ausgabe 1/2014 des Sprachreport nieder. (Daraus auch obige Zitate, den Nature-Artikel von Adams et al. 2021 betreffend.) Das Team bediente sich eines neuen Datensatzes zu Worthäufigkeiten namens DeReKoGram, basierend auf dem DeReKo, dem riesigen Deutschen Referenzkorpus. "Gram" nimmt dabei Bezug auf sog. n-Gramme, also Einzelwörter (Unigramme), Zweiwortverbindungen (Bigramme) usf., deren Frequenz ermittelt werden soll; aus diesem Blog bekannt ist womöglich der Google Ngam Viewer.
Es stellt sich heraus: Nicht nur sprechen und schreiben wir häufiger vom Hinzufügen als vom Wegnehmen, auch geben wir, wenn von beidem die Rede ist, der Addition den Vorrang. Und nicht nur beim Dualismus Mehr/Weniger macht sich der Additionsbias bemerkbar, auch bei anderen Bereichen, "die einer gewissen Polarität unterworfen sind", scheint sich eine Bevorzugung von "positiv polarisierten Wörtern" niederzuschlagen. Beispiele für solche Gegenstandsbereiche sind Progression (mit Partnerwörtern wie vorwärts und rückwärts), Wertigkeit (z.B. nützlich vs. nutzlos), Höhe (hinauf vs. hinab usw.) und sogar Reichtum. In letzteren fallen allerdings und interessanterweise zwei der vier Paare von Wörtern, bei denen das negativ polarisierte häufiger auftrat.
Für die beiden Paare [wohlhabend vs. bedürftig und finanzstark vs. finanzschwach] liegt keine unmittelbare Erklärung auf der Hand (wobei es Ausdruck einer Präferenz in Zeitungstexten sein könnte, eher finanzschwache als finanzstarke Gesellschaftsschichten zu fokussieren).
Hier betreten wir ein interdisziplinäres Feld zwischen Soziologie, Politik, Kommunikations- und Sprachwissenschaft! Wer bisher mit Korpuslinguistik auf Kriegsfuß stand (wie ich, zugegebenermaßen), möge sich von dem achtseitigen Sprachreport-Beitrag wider jedes Vorurteil bezaubern lassen. Wer den Datensatz-Overload als zu trocken und mathematisch empfindet und die Analyse überspringen will, für den gebe ich das Entscheidende wieder: "Wir können daraus schließen, dass in der deutschen Sprache – zumindest in den untersuchten Gegenstandsbereichen und für unsere Wortauswahl – in der Tat eine Neigung besteht, positiv polarisierte Wörter häufiger zu verwenden als negativ polarisierte." Und als Parallelbefund lässt sich festhalten, "dass in der (über DeReKoGram erfassten) deutschen Sprache in der Tat positiv polarisierte Wörter in Paarnennungen mit und und oder eher als erstes genannt werden."
Der addition bias ist übrigens so unbeackert, dass er in der doppelseitigen Sammlung unbewusster Denkschemata, die im Wissensteil der Süddeutschen Zeitung vom 28./29. Mai 2022 abgedruckt wurde und die ich wohlweislich aufgehoben habe, nicht auftaucht.
Aus Civilization ist mir außerdem folgendes Zitat im Gedächtnis geblieben (erscheint, sobald man engineering erforscht hat): A designer knows he has achieved perfection not when there is nothing left to add, but when there is nothing left to take away.
AntwortenLöschen-Antoine de Saint-Exupery
Mut zum Kürzen eigener Texte musste ich auch erst mühevoll lernen.
Löschen