Ungemein spannend ist der Komplex Atomsemiotik. Der Online-Auftritt des ORF hat eine tolle Einführung in die Problematik aufbereitet, und auch der Wikipedia-Eintrag ist ergiebig. Atomsemiotik als Zweig der Zeichentheorie beschäftigt sich, kurz gesagt, mit der Frage, wie man den Menschen der Zukunft (konkret: den in 10.000 Jahren lebenden) begreiflich machen soll, sich von Atommüll und sonstigen radioaktiven Hinterlassenschaften fernzuhalten. Zu den teils sehr schönen Ideen gehören (alle zitiert nach orf.at):
- "Es müssten Warnschilder aufgestellt werden, die je nach Entwicklung mit anderen Sprachen ergänzt werden."
- "Wenn nicht das eine Zeichen, das noch in 10.000 Jahren vor Atommüll warnt, gefunden werden kann, muss ein kultureller Kontext geschaffen werden, der die Zeit überdauert. [Der Semiotiker Thomas Sebeok] sprach sich für eine 'atomare Priesterschaft' aus, die mit Hilfe von Legenden und Ritualen Fremde von atomaren Lagerstätten fernhält."
- "Eine Studie aus der Schweiz empfahl, ein Endlager mit Millionen von Tonscherben zu markieren, die zu Symbolen wie Totenschädeln angeordnet werden."
- "Zwei Forscher wollten etwa Katzen genetisch so manipulieren, dass sich ihr Fell verfärbt, wenn sie radioaktiver Strahlung ausgesetzt werden." (Anm.: Diese "Strahlenkatzen" hat kein Geringerer als Stanisław Lem erdacht.)
Als ich zum ersten Mal mit diesem weiten Feld konfrontiert wurde, meldete sich sogleich der Zyniker in mir: Pff, als ob wir in 10.000 Jahren nicht eh ausgestorben sind ... Aber, dachte ich weiter, sollten wir nicht wenigstens etwaige Außerirdische, die nach uns auf der Erde siedeln, davon abhalten, sich gefährlicher Strahlung unnötig auszusetzen? Nun gut, die sind womöglich resistent gegen ionisierende Strahlen und haben ohnehin diverse genetische und technische Vorteile entwickelt, wenn sie in der Lage sind, sich auf fernen Welten niederzulassen. Hm, und was ist mit Tieren, etwa unseren nächsten Verwandten, die bis dahin so weit auf der evolutionären Leiter nach oben geklettert sein werden, dass sie Symbole deuten können und entsprechend handeln? Ihr merkt schon, man verliert sich recht bald in Spinnereien, wenn man in das Thema einsteigt.
Setzen wir einfach mal voraus, dass unsere Spezies in 10.000 Jahren noch existiert. Wie kommunizieren wir mit unseren Erben? Das Naheliegendste sind Schilder mit schriftlichen Hinweisen. Ebenso naheliegend ist leider, dass diese irgendwann entweder nicht mehr verstanden werden oder schlicht nicht ernst genommen werden, wie es mit den Tsunami-Steinen der alten Japaner geschehen ist ("Baut nicht unterhalb dieses Punktes!"). Bei jeder Sprachstufe eine neue Übersetzung und ein paar zusätzliche Ausrufezeichen oder sonstige Dringlichkeitsmarker eingravieren? Kann man machen, aber wer weiß schon, ob nicht die überübernächste Stufe beispielsweise des Deutschen ("Spätneohochdeutsch" oder so) die letzte ist? Sprachen sterben aus.
Und selbst scheinbar universelle Zeichen mögen verblassen. Die Person, die den Diskos von Phaistos gestempelt hat, dachte sich bestimmt auch: "Das ist was für die Ewigkeit!" Das von der Internationalen Atomenergieorganisation für verständlich gehaltene Warnschild nach der ISO-Norm 21482 sieht seit 2007 so aus:
Das rennende Männchen halte ich für einigermaßen nachhaltig begreiflich. Zwei Beine, zwei Arme, Kopf, das wird auch noch in ein paar tausend Jahren dem Phänotyp des Homo sapiens entsprechen. Die Beine sind in Bewegung, dazu ein Pfeil, Fluchtverhalten, klar. Mit einem Toten(!)schädel auf drohenden Tod zu verweisen, macht ebenfalls Sinn, wobei ich da an den alten Witz von Jack Handey denken muss: "The tired and thirsty prospector threw himself down at the edge of the watering hole and started to drink. But then he looked around and saw skulls and bones everywhere. 'Uh-oh,' he thought. 'This watering hole is reserved for skeletons.'" Das Strahlenwarnzeichen in Kombination mit abfallenden Wellen ist heutzutage freilich einleuchtend (hehe), ist aber das für Bedeutungsverblassung anfälligste Element von allen. Zuletzt: Wie kann sichergestellt werden, "dass es sich überhaupt um eine Mitteilung handelt" (Wikipedia)?
Den Vorschlag mit der mündlichen Tradierung, auch wenn er belächelt worden ist, finde ich tatsächlich attraktiv. Verwandte, die eine Generation voneinander entfernt sind, werden immer einander verstehen. Ein Vater erzählt seiner Tochter einmal im Jahr, möglichst in den immerselben Worten, vielleicht sogar gereimt, das Märchen vom glühenden Fass. Die Tochter gibt es später an ihre Kinder weiter und so fort. Auch hier besteht die Gefahr, dass die Sprache ausstirbt, weil das sie verwendende Volk ausstirbt; bzw. die Familienlinie endet, oder Änderungen in der Sprache werden nicht berücksichtigt, so dass Teile des Textes nicht mehr kapiert werden, aber trotzdem stur weitergegeben werden. Oder, oder, oder. Dennoch: Ohne dass ich mich je eingehender mit Oral History beschäftigt hätte, weiß ich, dass Überlieferungen in Kulturen ohne Schriftlichkeit stabiler sind als der Laie denkt. Und mitunter wertvoller als schriftliche Überlieferung, wie schon Platon erkannte:
Wer also glaubt, eine Kunst in Schriften zu hinterlassen, und wieder, wer sie annimmt, als ob aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entnommen werden könnte, der wird wohl einfältig genug sein und in der Tat den Wahrspruch des Ammon nicht kennen, indem er glaubt, geschriebene Reden seien etwas mehr als eine Gedächtnishilfe für den, der das schon weiß, wovon das Geschriebene handelt. [...] Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich. Denn die Werke auch dieser stehen wie lebendig da, wenn du sie aber etwas fragst, schweigen sie sehr vornehm.
(Sokrates im Phaidros-Dialog)
Einen "Zukunftsrat" einzurichten, scheint mir auch etwas blauäugig. Jede Organisation kann sich wegen irgendwelcher Umstände von heute auf morgen auflösen. Gehen wir zum Schluss auf das Konzept der "feindlichen Architektur" ein. Meterhohe Granitsäulen wie am Waste Isolation Pilot Plant in New Mexico, dornenbewehrte Mauern oder "Verbietungsblöcke" machen nur neugierig. "Eingewendet wurde bei diesen Warnsystemen, dass diese Hochsicherheitsmaßnahmen die Nachfahren dazu verleiten könnten, erst recht nach 'Schätzen' zu graben." (ORF) Eben! Hat denn niemand von denen, die so was anregen, "Riptide" von Preston/Child gelesen? Ich kenne doch die Menschen. Eine bombensichere Lösung, sie vor Gift und Verderben zu bewahren, habe ich derzeit leider auch nicht.
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