Donnerstag, 25. Juli 2024

TITANIC vor zehn Jahren: 8/2014

Yippie, ein Sommerlochtitel! Aber keineswegs ein Sommerlochheft – es gibt viel zu erzählen.


Quietschvergnügt habe ich den Aufmacher wiedergelesen, eine Telefonaktion. Der Islamische Staat war gerade drauf und dran, den Irak, die Levante und mittelfristig den Rest der Welt zu unterwerfen, also riefen wir schon mal in diversen Örtchen im Rhein-Main-Gebiet als "konsularische Vertretung" an, um uns nach "Repräsentativgebäuden" für das abgespaltene Kalifat sowie der allgemeinen Aufgeschlossenheit diesem gegenüber zu erkundigen. Als Krönung kontaktierten wir auch noch einen Hüpfburgverleih und eine Konditorei, auf dass die anstehende Konsulatseröffnung angemessen gefeiert werden konnte ("... würden wir gerne eine Hüpfburg mieten. Haben Sie etwas, das vielleicht so ein bißchen in Richtung Moschee geht?"). Zu unser aller Fassungslosigkeit erklärte sich tatsächlich eine Konditorin bereit, eine ISIS-Torte anzufertigen.



Das gute Stück wurde ganz knapp vor Redaktionsschluss fertig; Tim Wolff und ich holten es mit dem Auto ab und verzehrten es bildmächtig (und nicht ohne Genuss).


In der gegenwärtigen Fast Fashion-Ära leider erfolgreich verdrängt wurde, dass 2014 wiederholt in Kleidungsstücken von Primark Einnäher mit Hilferufen entdeckt worden waren. (Ein solches Sweatshop-Etikett ist im Humboldt Labor des neuen Berliner Humboldt-Forums ausgestellt.) Mark-Stefan Tietze und ich spannen diese Ungeheuerlichkeit weiter: "In immer mehr Branchen melden sich Zwangsarbeiter und andere Ausgebeutete heimlich zu Wort!" (S. 24-25)


Eine arg freidrehende Parodie, deren Vorlage man heute kaum noch auf dem Schirm hat (die rotzigen, überlangen Abfuck-Reportagen von Vice), findet sich auf S. 32f.: "Wir haben eine todkranke Frau getroffen, die uns mit ihrem Lebenswillen einfach umgehauen hat, oder: Wenn du jeden Morgen mit dem Gefühl aufwachst, daß in deinem Kopf gerade eine Monster-Truck-Rallye stattfindet, ist es dir vollkommen egal, wenn dich deine eigene Mutter einen Spast nennt". Dass Elias Hauck der Verfasser ist (dessen Name eine Anspielung ist), darf hier und heute verraten werden und ist von Insidern gewiss schon damals entschlüsselt worden.


Das erste Motiv in einer kurzlebigen, aber hübschen Anzeigenkampagne ("Eine Initiative der Gesellschaft zur Komplexitätsreduktion und des Verbands deutscher Kabarettisten, Witztreibender und Stammtisch-Clowns"), ins Leben gerufen, glaube ich, vom Chef persönlich:


Hier kommt eine meiner Lieblings-"55ff"-Titelseiten:


Die Idee dazu hatte Moritz Hürtgen, und es war herrlich zu erleben, wie Tom Hintner von uns dazu gebracht wurde, sich auf der Straße in alberner Gewandung ablichten zu lassen – üblicherweise ist es andersrum.

Stolz auf mich selbst bin ich wegen dieses Witzes im "55ff"-Innenteil:


Zu guter Letzt muss es noch einmal um mich gehen. In die beliebte Rubrik "TITANIC intern" (S. 5) hat sich nämlich folgende Unverschämtheit eingeschlichen:


Weiteres Notierenswertes
- Mit dieser Ausgabe ist Titanic zum ersten Mal nach sieben Jahren teurer geworden: um 50 Cent.
- 4 Euro hingegen kostete eine Ausgabe, wenn man sie in der hier (S. 11) erstmals beworbenen Neuheit namens TITANIC-App las. Im August 2024 feiert diese App also schon ihr Zehnjähriges!
- Noch ein Jubiläum: Die PARTEI wurde 2014 zehn Jahre alt. Ich kann schon jetzt verraten, dass am 3. August 2024 in Köln eine "20 Jahre Die PARTEI"-Party steigt.
- Haha, wir befinden uns in der Phase, wo J. Gauck zusehends den Verstand verliert. Es sei im "Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen [...] manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen", sagte der Christ am 14. Juni dem Deutschlandfunk, worauf mit einem "Brief an die Leser" (S. 6f.) und dem Alternativtitel auf der Rückseite angemessen repliziert wurde.
- Ein (nicht von mir abgefasster) Brief an Günter Grass wiederum nimmt auf die legendäre Kuckucks-Aussage im Focus Bezug. Das hat sich allein für die wunderschöne Vignette von Hilke Raddatz gelohnt (S. 10)!
- Auf S. 29 befasse ich mich mit der sog. Weltformel. Auf den erwartbar albernen Aufsatz hin erreichte mich einige Monate später ein mehrseitiger Brief, in dem mir ein wunderlicher Herr nicht nur seine eigene Weltformel verriet (sie ist ca. eine Zeile lang), sondern mir obendrein auseinandersetzte, warum E=mc² "nicht komplett" ist ("es fehlt die dunkle Energie!!"), die Schwerkraftdefinition falsch ist ("KEINE KRAFT!"), die Keplerschen Gesetze upgedatet gehören und die Hubble-Konstante zu korrigieren ist.

- Nicht gedacht hätte ich, dass der Ärztemangel auf dem Land schon vor zehn Jahren akut war (S. 36-39)!
- Auf Seite 41 steht ein weiterer Beitrag, der unter Pseudonym verfasst worden ist: "Neues vom Tod" von einem "Johnny B. Dead". Dahinter verbirgt sich ein ehemaliger Redakteur, der seit den frühen 1980ern für Titanic geschrieben und selbst noch unter meiner Ägide allmonatlich "Briefe an die Leser" eingesandt hatte, bevor er sich 2018 in den Ruhestand verabschiedete.
- Zu meinen Lieblingstexten in dieser Nummer gehört "Halb und nackt gesellt sich gern" von Michael Ziegelwagner (S. 42-43). Ich würde ihn gerne auszugs(!)weise zitieren, kann mich aber für keine Stelle entscheiden; man muss ihn in toto genießen.
- Das zwote Gedicht in Folge, in dem Wurst ein Motiv ist: "Langsonett von der evangelischen Pommesbude", Th. Gsella, S. 54.

Schlussgedanke
Abermals eine lohnende Revisitation.

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