Donnerstag, 29. August 2024

TITANIC vor zehn Jahren: 9/2014

Wieder einmal sind mehrere Doppelheiten (das Wort steht im Duden!) zwischen den Jahren 2014 und 2024 auszumachen. Zeitgeschichtlich dominier(t)en im September damals wie heute die drei großen internationalen Themen Russland, Israel und Islamischer Staat, was sich im Septemberheft '14 auf den Seiten 3, 5, 7 (Konkret-Anzeige), 8 ("Basteln mit Bier"), 22-23, 32-33, 36-38, 40-41, 43 (Becker-Cartoon) und 46-47 spiegelt. Plus: Ebola 2014, Mpox 2024. Zudem gibt es auf der Meta-Ebene eine Parallele: Das vorliegende Heft wurde aus Gründen nicht vom damals amtierenden Chefredakteur verantwortet, sondern vertretungshalber von Mark-Stefan Tietze; die morgen erscheinende Ausgabe 9/24 wurde ebenfalls von jemand anderem als der regulären Chefredakteurin gemacht, in diesem Fall von mir.

Ich hätte schwören können, dass der schöne Ekeltitel, dem das Kunststück gelingt, prima vista gänzlich unschockig auszusehen, M.-S. Tietzes Einfall war, aber nein, er wurde von Moritz Hürtgen ersonnen, der in jenem Monat abermals enorm produktiv war.


Aufhänger für den Fotoroman auf S. 12ff. war die unvorstellbarerweise vernünftige Einschätzung eines sozialdemokratischen Kabinettsmitglieds. "Wirtschaftsminister Gabriel hat entdeckt: Rüstungsgüter können Schaden anrichten! Deshalb fürchtet er sich plötzlich vor dem 'Geschäft mit dem Tod' und fordert einen Kurswechsel für Deutschland, den drittgrößten Waffenexporteur der Welt. Klar, daß er sich damit Feinde macht, besonders in Bayern ..." Es folgt eine nette Geschichte mit cleverem, aber leicht verständlichem Plot.


Ladies and gentlemen, hier kommt etwas aus der Kategorie "Würde ich heute nicht mehr machen": ein Testbericht zu einem fiktiven Videospiel über den Abschuss der Maschine des Fluges MH17. Ich meine – das Genre Spieletest zu parodieren, war ein einigermaßen frischer Einfall. Der Ton ist gut getroffen, und das Layout entspricht dank Tom Hintner fast 1:1 dem damaligen der GameStar, was übrigens als liebevolle Hommage verstanden werden darf. Nur: warum? Wo ist die Satire? Der Text ist weniger eine Kritik an Spiele- als eine an Kriegsberichterstattung, und selbst in dieser Hinsicht sind die Vorwürfe schwammig und ungerechtfertigt. Auch sehe ich mit zehn Jahren Abstand und vor dem Hintergrund des Angriffs auf die Ukraine 2022 einiges anders. Es sei in Erinnerung gerufen, dass die damalige herrschende Auffassung unter Linken eine ganz andere war als die heutige, sofern man überhaupt von "den Linken" als einheitlicher Strömung sprechen konnte (konnte man nicht). Na ja, Schwamm drüber.


Auch auf meinen Mist gewachsen ist das folgende Wortspiel. Ich murmelte während der Redaktionskonferenz zusammenhanglos "Kalif Strolch", und Michael Ziegelwagner fand das so originell, dass er daraus ein Märchen dichtete, welches auf S. 32f. zu bestaunen ist.


Und hier kommt das absolute Highlight des Hefts. Die unvergesslichste und sonderbarste Redaktions-Exkursion, die ich je unternommen habe, machte ich gemeinsam mit M. Hürtgen und M. Ziegelwagner, und sie führte uns nach Borken (Hessen). Dort war gerade Deutschlands erster "Senioren-Freizeitpark" eröffnet worden, nur um nur einen Monat später wieder geschlossen zu werden. Was bin ich froh, dass wir dieses Zeitfenster genutzt haben, um den Irrwitz festzuhalten. Allein die schiere Größe und die unzähligen Bereiche des Parks, die wohlwollend als "eklektisch", nüchtern aber als chaotisch, konzeptlos und größenwahnsinnig zu bezeichnen sind, glaubt einem keiner: Der auf S. 28 abgebildete Übersichtsplan vermittelt nur eine vage Vorstellung von dem von einer Privatperson quasi im Alleingang zusammengestellten Panoptikum (Chinahaus, Bootsanlegestelle, Genforschung, Elvis Memorial Disco u.v.v.m.) ...


Dass der Ausflug sogar ein kleines mediales und rechtliches Nachspiel hatte, war das i-Tüpfelchen.

Weiteres Notierenswertes
- Just heute teilt der Katz-&-Goldt-Account auf Facebook und Instagram den in dieser Ausgabe (S. 34-35) abgedruckten Comic "Choose your own personal nut desire intensity"!
- Auf der "55ff"-Titelseite "Dein erstes Herbarium" (Gaitzsch/Hürtgen) befand sich bis kurz vor Drucklegung ein ulkiger Fehler: "Vogelniere" statt "Vogelmiere". Kollege Hintner, der die Pflanzennamen vom Manuskript händisch abgetippt hatte, kannte die Vogelmiere nicht.

Schlussgedanke
Ganz schön harter Tobak. Ich schrieb ja bereits vor einigen Monaten, dass wir allmählich von der verhältnismäßigen Unbeschwertheit der späten Nullerjahre in die Ära des ununterbrochenen Weltenbrandes und der nicht abreißenden deprimierenden Nachrichten hinübergleiten. Angesichts des ganzen "schweren" Materials konnte ich beim Wiederlesen dieses Heftes zwar nur punktuell loslachen (hauptsächlich bei "Greise ins Glück"), doch fand ich die satirische Bearbeitung ebenjenes Materials im Wesentlichen gelungen.

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