Hier sind wir also. Kann man sagen, dass der Anschlag auf die Charlie-Hebdo-Redaktion auch Titanic für immer verändert hat? Das wäre zu pathetisch. Wohl aber gibt es ein Davor und ein Danach. Und das unmittelbare Danach, i.e. die ersten Wochen, haben so einiges auf den Kopf gestellt. Ich erinnere mich noch genau daran, wie die Meldung am 7. Januar reinkam, und wie wir erst stundenlang zögerten, irgendwas darüber "zu bringen", bis wir uns zu einer Reaktion regelrecht genötigt sahen, welche schließlich Michael Ziegelwagner am Nachmittag dankbarerweise formulierte. Über den hereinbrechenden Wahnsinn haben Kollegen, die dabei waren, schon genug gesagt und geschrieben. Zur Wahrheit gehört jedenfalls auch, dass es neben all den negativen Auswirkungen (Pressebelagerung, Polizeischutz, Sorgen, Stress, Trauer, Survivor's guilt) auch positive gab: Abo-Zahlen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellten, sowie unzählige Anfragen an Titanic-Mitarbeitende zur Teilnahme an teils großzügig bezahlten Diskussionsforen und Medienfeatures. Selbst ich, das kleinste Licht in der Redaktion, wurde zu mehreren Talkrunden eingeladen, wurde um Stellungnahmen und Gastauftritte gebeten. Zynismus des Schicksals! Darüber hinaus kam es zu diversen Randgeschehnissen wie dem folgenden, das ich komplett vergessen hätte, wenn es der Chef nicht in "TITANIC intern" festgehalten hätte:
Ein Blick in das unter Extrembedingungen zusammengedengelte Heft straft jene Stimmen Lügen, die uns seinerzeit vorwarfen, wir würden uns um den Nexus Spott / Kunstfreiheit / religiöse Gefühle / Gewalt herumdrücken. Abseits vom Titelwimmelbild, für das Leo Riegel reichlich Überstunden schieben musste, wurden Charlie Hebdo und die Ursachen bzw. Folgen aufgegriffen: im Startcartoon (von mir), im Editorial ("Herzlich willkommen, liebe neue Freunde der Satire!"), in der Abo-Anzeige ("TITANIC-Märtyrer-Abo" vs. "TITANIC-Angsthasen-Abo"), in einem Bildwitz von Michael Sowa ("Islamisten zeichnen zurück"), in Stefan Gärtners Essay, auf der Doppelseite in der Heftmitte ("TITANIC supermutig: Die größte Mohammedkarikatur aller Zeiten!"), in einem Hauck&Bauer-Cartoon (S. 45), in einem Mahler-Comic (S. 54), in einem sexualitätswissenschaftlichen Quatsch-Artikel von Gerhard Henschel ("Unterm Tschador wird gejodelt") und natürlich auf den Seiten 14 bis 20 mit der "TITANIC-Terroristen-Umschulung" "Nun lacht doch mal, ihr Stimmungskiller!" nebst "Humordiplom für Muslime" ("TITANIC-Deeskalationsservice"). Elias Hauck, der sich seine ersten Monate als Redakteur gewiss auch anders vorgestellt hatte, überzeugte im Clownskostüm mehr als so mancher professionelle Clown. An diesen Anblick denke ich gern zurück.
Apropos Elias: Ihm ist es zu verdanken, dass es 2015 eine inoffizielle Neuauflage der "Götzenpauke" gab, jener Scrapbook-Rubrik, in der Max Goldt und Rattelschneck in den Neunzigern drollige, lachhafte, kryptische Ausrisse, Kritzeleien und Fotografien versammelten.
Man mag es kaum glauben, aber nicht nur Islamismus beherrschte Anfang 2015 die Schlagzeilen. Eine große, zuletzt wieder dezent hochkochende Sache war das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Wie ein deutscher Supermarktprospekt unter TTIP aussehen könnte, imaginierten Elias Hauck und Moritz Hürtgen auf den Seiten 46-47: "Willkommen bei den USA-Wochen ... Regionale Spezialitäten schmecken uns fein, mjaaam! Doch: Es gibt nichts, was nicht optimiert werden kann. Das zeigt uns dank des Freihandelsabkommens unser Buddie Obama aus Amerika nun an typisch deutscher Kost. Ab jetzt ist immer Saison für alles!"
Weiteres Notierenswertes
- Im Zuge der *schüttel* Pegida-Bewegung feierten in jener Zeit zwei Schlagworte fröhliche Urständ: "Lügenpresse" und "Mitte der Gesellschaft". Beiden widmeten wir investigative Artikel (S. 28-30 resp. S. 32f.).
- Endlich wieder ein längerer Beitrag von Ella Carina Werner (S. 36-38): "Marschieren, bis die Socken qualmen: Extrem- und Weitwandern boomt! Der neueste Kick: Auf den Spuren unserer Mütter, unserer Väter, 1500 Kilometer vom einstigen Ostpreußen bis nach Deutschland."
- Auf S. 52: einer der schönsten Hurzlmeiers der letzten zehn Jahre.
- Letzte Ausgabe von Heinz Strunks "Strunk-Prinzip" – ein Glück! Die "Intimschatulle" war dieser Reihe meilenweit überlegen.
Schlussgedanke
Ein unvermeidbarerweise etwas monothematisches Heft, das aber unter den Umständen ganz ordentlich geraten ist.